„Schule, Schule“: Wenn Kinder durchs Raster fallen
„Schule ist voll behindert“, kreischt Samira in der Riesenradgondel über den Dächern von Münster. Sie ist eine der vier Protagonisten. Erzählt wird von deren Gefühlen, Träumen und Ängsten. Das Besondere daran: Alle haben die inklusive Schule Berg Fidel, mittlerweile umbenannt in „Primus Schule Münster“, besucht. Dort lernen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam in altersgemischten Klassen. Und zwar ohne Noten. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten gingen die Schüler nach dem vierten Schuljahr getrennte Wege. Bei der Verteilung der Mädchen und Jungen auf weiterführende Schulen war es mit der Inklusion dann meistens vorbei.
Von den Folgen dieses Aussortierens erzählt Regisseurin Hella Wenders. Dafür begleitete sie Samira, David, Jakob und Anita ein ganzes Schuljahr lang. Die vier waren, damals noch als Grundschulkinder, bereits sechs Jahre zuvor in Wenders erster Dokumentation über jene Schule zu sehen. Wenn man sich nun anschaut, was aus ihnen geworden ist, beginnt man, über Sinn und Unsinn im öffentlichen Bildungssystem der Bundesrepublik nachzudenken. Und auch darüber, wie wichtig es gerade für benachteiligte Kinder ist, engagierte Pädagogen und Eltern um sich zu haben. Man ist versucht, sich Samiras Parole im abgewandelten Sinne anzuschließen: In vielen Fällen behindert das Bildungssystem eine erfolgreiche Schullaufbahn ehemaliger Inklusionsschüler.
Begabt und abgelehnt
David leidet am Stickler-Syndrom. Seit frühester Kindheit trägt er ein Hörgerät, auf einem Auge sieht er extrem schlecht. In der Grundschule beschreibt er seinen Traum, Astronom zu werden mit den Worten eines Erwachsenen. Doch nach den ersten vier Klassen wird der vielseitig begabte Junge von mehreren Gymnasien abgelehnt, offenbar wegen seiner körperlichen Defizite. Doch der Traum vom Abitur bleibt. Mit seinem älteren Bruder Jakob besucht der Musikbegeisterte fortan eine private und inklusionsorientierte Montessori-Schule. Jakob trägt das Down-Syndrom. Für seine Mitschüler spielt das keine Rolle. Sie schätzen sein besonderes Talent, anderen Trost zu spenden. Seine für Außenstehende schwer zu entziffernde Sprache verstehen sie mühelos. Doch mit der Lehrstellensuche kommt für ihn die Ernüchterung.
Mobbing durch Mitschüler und die Erfahrung, von den Lehrern allein durch als ungerecht empfundene Noten in ihrer Leistung bewertet zu werden, machen Samira auf ihrer neuen, wesentlich größeren Schule zu schaffen. Sie wehrt sich dagegen, sich in ein typisches Mädchenkorsett zwängen zu lassen. Manchmal möchte das Adoptivkind einfach nur wieder fünf Jahre alt sein. Anhand von Noten beurteilt, vielleicht sogar aussortiert zu werden, ist auch Anitas großes Problem. Als Kleinkind kam sie mit ihrer Familie aus dem Kosovo. Nach der Grundschule landet sie auf einer Förderschule. Als 17-Jährge müht sie sich ab, am Berufskolleg ihren Hauptschulabschluss nachzumachen. Der würde ihr zudem ein sicheres Bleiberecht verschaffen. Die junge Frau wirkt oft widerborstig und ein wenig plump, doch in einem Schulaufsatz gibt sie intime Einblicke in ihre Seele, die auch wegen der Fluchterfahrung durchaus zerbrechlich ist.
Chancengleichheit gefordert
„Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung“, heißt es in der UN-Behindertenrechtskonvention. „Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen.“ Damit ist nicht zwingend gemeint, das gegliederte Schulsystem abzuschaffen oder flächendeckend Inklusionsklassen einzuführen. Wohl aber, Kindern und Jugendlichen, zumal wenn sie aus dem üblichen Schema fallen, die optimale Förderung zu ermöglichen.
Samira, David, Jakob und Anita machen auf ganz eigene Art deutlich, woran es dabei in deutschen Schulen mangelt. Diesen Kontext macht Wenders Film allerdings nicht durch politische Positionen deutlich, sondern in den Geschichten ihrer Figuren selbst. Es ist beeindruckend, wie offen sich diese vor der Kamera äußern. Diese erkenntnisreiche Unbefangenheit, zweifelsohne ein Ausdruck des über Jahre gewachsenen Vertrauens, tröstet einen mühelos über den, trotz des ständigen Perspektivwechsels, etwas trägen Erzählrhythmus hinweg. Ein ebenso starkes wie unaufdringliches Statement für mehr Bildungsgerechtigkeit.
Info: „Schule, Schule – die Zeit nach Berg Fidel“ (Deutschland 2017), ein Film von Hella Wenders, 98 Minuten. Jetzt im Kino