Kultur

Schnaps macht mobil

von ohne Autor · 17. Oktober 2012

Die Seele des Whiskys lässt sich schwerlich erschmecken, wohl aber erschnüffeln. Sagen zumindest einschlägige Experten für schottische Edelbrände. Doch wie dechiffriert man jenes Aroma, wenn einem der Geruch der Straße in der Nase sitzt?

Stolze Tradition und Unterschicht: In „Angels' Share“ verbindet Regisseur Ken Loach Lebensläufe und Situationen, die wenig miteinander zu tun zu haben scheinen. Doch auf den zweiten Blick ist zu erleben, dass mit etwas Fantasie und Dreistigkeit auch unter den widrigsten Umständen ziemlich viel möglich ist. So banal das auch klingen mag. Auch deswegen ist diese Umverteilungskomödie Loachs bislang versöhnlichster, wenn nicht gar warmherzigster Film. Dennoch blickt er nicht minder ungerührt in die Abgründe und Absurditäten im Leben am Rande der britischen Gesellschaft. 

Irgendeine Vorstadt von Glasgow: Der Wind bläst die Jogginghosen der jugendlichen Arbeitslosen zu Ballons auf, während sie durch die immertrübe Suppe schlurfen. Es wird gesoffen, geprügelt und gekotzt. In derlei Stadtteilen soll die Lebenserwartung der Männer geringer sein als in Bagdad, hieß es vor Kurzem. Kleinkriminelle sollen mit sozialen Arbeitsstunden zur Besserung angehalten werden. Doch kann man verwahrloste Familien und die alltägliche Sinnlosigkeit so einfach hinter sich lassen?

Showdown in der Klinik

Einer dieser hoffnungslosen Fälle ist Robbie. Für ihn sind die Sozialstunden die letzte Chance, die Geburt seines Sohnes nicht vom Knast aus mitzuerleben. Doch der Vater seiner Freundin setzt alles daran, die Beziehung zu zerstören. So kommt es in der Geburtsklinik zu einem überraschenden Showdown, der einem den Atem stocken lässt.

Doch dank Sozialarbeiter Harry fällt Robbie nicht in die Gewalt zurück. Umso deutlicher wird ihm, dass er eine ernsthafte Perspektive entwickeln muss, will er seine kleine Familie nicht verlieren. Genau die weist ihm Harry, der sich wie ein Vater um Robby und all die anderen verpeilten Chaoten kümmert. Zur Belohnung für die Schufterei geht es auf einen gemeinsamen Ausflug in eine Destille in den Highlands. Zunächst begegnet Robbie dem torfigen Zeug namens Whisky recht ratlos. Ebenso wie all diesen merkwürdigen Begriffen wie dem „Angels' Share“ – der „Schluck für die Engel“ bezeichnet jene geringe Schnapsmenge, die sich bei der Lagerung im Fass verflüchtigt. Doch je mehr er davon probiert, desto deutlicher wird ihm sein sensibler Geschmackssinn für die verschiedenen Sorten. Damit kann er während einer Whiskymesse sogar einen sogenannten Fassmeister und einen Händler beeindrucken.

Das letzte krumme Ding

Während seine Freunde vom Arbeitsdienst immer noch ziemlich planlos durch die Gegend geistern, erliest sich Robbie die Feinheiten der Brennkunst. Bis die ernsthafte Perspektive immer klarer vor Augen tritt. Schritt eins: Wie wäre es mit einem Neuanfang als Whiskykenner? Schritt zwei: Wie wäre es mit einem diebischen Coup bei der Versteigerung eines Fasses des teuersten Whiskys der Welt? Bei letzterer Option, das ist die bittersüße Ironie dieser Geschichte, kommt freilich die althergebrachte kriminelle Energie ins Spiel. Doch für den verlockenden Weg in ein neues Leben ist Robbie und seiner Gang kein Preis zu hoch. Am Ende verliert jenes Fass mehr als einen kleinen Schluck.

Wenn uns Loach durch siffige Sozialwohnungen führt, in denen sich verpickelte Jungspunde mit einem Tütenweingemisch abschießen, serviert er uns jenes verwahrloste Glasgow, das viele im Kopf haben, wenn sie an den mühevollen Strukturwandel in der einstigen Hochburg der Schwerindustrie denken. Nicht immer gelingt der Spagat zwischen Zuspitzung und Zotigkeit.

Dessen ungeachtet sticht vor allem ein Geschöpf dieses Sumpfes ins Auge: Paul Brannigan brilliert in seiner Darstellung des Robbie. Wie gewohnt setzte Loach vorwiegend Laienschauspieler ein, die er über weite Strecken improvisieren ließ, um ein Maximum an Stallgeruch und Kauzigkeit zu erreichen.

Von der Gosse zum Film

Doch Brannigan hebt sich klar von den anderen ab. Als Laie geht der 25-Jährige mittlerweile ohnehin kaum noch durch. Jüngst drehte er mit Scarlett Johannsson den Science-Fiction-Film „Under The Skin“. Sollte sein authentisches Spiel unter Loachs Regie etwa darauf beruhen, dass sich sein Lebensweg vor der unerwarteten Schauspielerkarriere kaum von Robbies Elend unterschieden hat? Als Jugendlicher lebte er auf der Straße. Später landete Brannigan wegen einer Schießerei hinter Gittern und leistete gemeinnützige Arbeit als Fußballtrainer.

Wie dem auch sei: Die Intensität, mit der er Robbies Wandel vom gehetzten Tier zum ausgebufften Filou interpretiert, berührt zutiefst. Robbies unberechenbares Temperament vereint stille Wut, explosive Ausbrüche und übermächtige Verlustängste. Deswegen, aber auch rein physiognomisch erinnert Brannigan an Robert Carlyle, einen der sensibelsten Darsteller für die Zwischentöne der Abgehängten und Ohnmächtigen. In Loachs Drama „Carla's Song” gab er einst den melancholischen Busfahrer.

Brannigan trägt den Film auch in den Momenten, wo dieser die Züge einer recht gefälligen Krimikomödie annimmt, die nahezu huldvoll Highland-Klischees ins Bild setzt. Und doch: Spaß macht „Angels' Share“ bis zum Schluss.

Info: „Angels Share – Ein Schluck für die Engel“ (UK/ F/ B/ I 2012), Regie: Ken Loach, Drehbuch: Paul Laverty, mit Paul  Brannigan, Siobhan Reilly, John Henshaw u.a., 101 Minuten.

Ab sofort im Kino

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