Die nationalistische Prahlerei des Kremls kann es nicht verbergen: Durch Russland geht ein tiefer Riss zwischen liberalen und ultrakonservativen Kräften. In Milo Raus Dokumentarfilm „Die Moskauer Prozesse“ liefern sich beide Seiten hitzige Gefechte vor einem fiktiven Gericht.
In diesen bewegten Tagen sprach der russische Präsident Wladimir Putin von der „heiligen Krim“. Viele sahen darin eine weitere Umarmung des nationalistischen und orthodoxen Mainstreams im Land. Seit Jahren versuchen Kreml und Kirche, die russische Gesellschaft in eine sich selbst genügende Stagnation zu treiben. Widerstand endet häufig mit Repressalien. Das bekamen nicht zuletzt die Macher der Moskauer Ausstellungen „Vorsicht! Religion“ (2003) und „Verbotene Kunst“ (2006) zu spüren. Weitaus mehr Aufmerksamkeit im Ausland zog die Putin-kritische Performance der Gruppe Pussy Riot in der Moskauer Erlöser-Kathedrale auf sich. Einige von deren Mitgliedern mussten sich ebenfalls vor Gericht verantworten.
Keine Frage: In Russland gärt es. Auch deshalb, weil Prozesse gegen kritische Geister meist bloße Inszenierung, besser gesagt: eine Farce, sind. Der Theaterregisseur Milo Rau legte diese Dynamiken in seinem Stück „Die Moskauer Prozesse“ frei. Welche Spannungen sich dabei entluden und wie sich die realen Fronten durch einen fiktiven Gerichtssaal zogen, ist nun komprimiert im gleichnamigen Dokumentarfilm über das Theaterprojekt zu verfolgen.
Dafür versammelte der Schweizer, der seit seiner Bühnen-Adaption der berüchtigten „Erklärung“ des Rechtsterroristen Anders Breivik selbst zur Skandalfigur wurde, vor gut einem Jahr Angeklagte, Zeugen und eine Verteidigerin aus jenen Gerichtsverfahren sowie Experten aus der Kunstszene und dem Klerus – was an sich schon beeindruckend ist. Mit ihnen erweckte er jene Verhandlungen zu neuem Leben. Allerdings nicht etwa als Neuinszenierung von Realität wie in seinem Stück „Die letzten Tage der Ceausescous“. Vielmehr ging es darum, einen Prozess zu simulieren, der um eine echte Aufklärung von Tathergängen und Tatmotiven bemüht ist – also um eine Ausgangslage, die bei den realen Prozessen zu keinem Zeitpunkt gegeben war. Was wiederum den etwas großspurig anmutenden Titel erklärt, der an die Schauprozesse unter Stalin erinnert.
Geschworene aus allen Milieus
Für die zweitägige Performance schlüpften manche Prozessveteranen in neue Rollen: Der prominente Fernsehjournalist Maxim Schewtschenko, ehedem als Zeuge geladen, nahm nunmehr als Ankläger die „echte“ Pussy-Riot-Aktivistin Katja Samuzewitsch in die Zange, deren Strafe seinerzeit zur Bewährung ausgesetzt war. Auf der Geschworenenbank versammelte sich ein bunter Mix vom Fotostudiobesitzer bis hin zum Bewohner einer orthodoxen Kommune. Am Ende fällten die Geschworenen ein überraschendes Urteil.
Für seinen Film befragte Rau einige Prozessteilnehmer zusätzlich in Interviews. Gerade auf der Anklageseite wird dabei allerdings wenig Überraschendes geboten. Immer wieder spulen Schewtschenko und seine Brüder im Geiste ihre Tiraden gegen zeitgenössische Kunst und alles, was sie für liberal-dekadent halten, ab. Erhellend ist es allerdings mitzuerleben, wie wenig sich jene Äußerungen von denen auf der Bühne im Moskauer Sacharow-Zentrum unterscheiden: also in jener Einrichtung, die den Namen des berühmten sowjetischen Dissidenten Andrej Sacharow trägt und Schauplatz jener religionskritischen Ausstellungen war. Insofern fördert die Inszenierung ganz eigene Realitäten zutage.
Selbstmord nach Anklage
Dass die Seite der Verteidigung dabei eher blass bleibt und unsicher wirkt, überrascht dann aber doch. Selbst wenn es der Anwältin Anna Stawickaja immer wieder gelingt, die Widersprüchlichkeit jener guten Christenmenschen zu enttarnen, die mit Gewalt gegen die Ausstellungen vorgegangen waren oder diese billigen und wenig Respekt vor Andersdenkenden zeigen. Bewegend sind die Szenen mit dem Autor Michail Ryklin, dessen Frau als Kuratorin von „Vorsicht! Religion!“ angeklagt worden war: Weil der Druck zu groß wurde, nahm sie sich das Leben.
Vielleicht war jenen, die sich dem konservativen Lager vor diesem Gericht entgegenstellten, ihre heikle Lage bewusst? Schließlich beäugten die Behörden das Spektakel mehr als misstrauisch. In den russischen Medien wurde es lange Zeit totgeschwiegen. Rau wurde Monate später die Einreise verwehrt.
Kein Wunder also, dass über der inszenierten Neuverhandlung prominenter Skandale eine bleierne Schwere lag: Der Film gibt davon einen intensiven Eindruck. Umso erfrischender und erkenntnisreicher ist der Moment, als die russische Welt da draußen in das Kammerspiel-Ambiente einbricht. Mitarbeiter der Einwanderungsbehörde platzen in den Saal, um unter fadenscheinigem Vorwand die Papiere von Raus Team zu überprüfen. Das Erstaunliche: Schewtschenko und weitere Vertreter oder Anhänger der Anklage solidarisieren sich mit dem Rest, der schließlich nicht weiter behelligt wird. Ebenso wird eine Horde Kosaken ausgebremst, die die Veranstaltung sprengen will, weil sie annehmen, dort würde die orthodoxe Kirche verunglimpft. Nachdem sie einige Zeit in den Reihen des Publikums verbracht haben, trotten sie friedlich von dannen. Wenn Überzeugungsarbeit in Russland nur immer so einfach wäre!
Rau zeigt in stark verdichteter Form: Mag Putins Reich nach außen auch noch so zackig auftreten: Im Inneren ist keinesfalls monolithisch, sondern diffus. So sind es nicht nur die Geschworenen, die einen am Ende mit etwas Hoffnung entlassen.
Info: Die Moskauer Prozesse (Deutschland 2013), ein Film von Milo Rau, mit Katja Samuzewitsch, Anna Stawickaja, Maxim Schewtschenko, Michail Ryklin , Gleb Jakunin u. a., 86 Minuten. Ab sofort im Kino