Es war ein Zeitenwechsel. 1998 kam nach 16 Jahren Helmut Kohl die erste rot-grüne Regierung auf Bundesebene an die Macht. Edgar Wolfrum, Zeithistoriker an der Heidelberger Universität, hat nun ein fulminantes Werk über die Ära Gerhard Schröder/Joschka Fischer vorgelegt.
Die erste Reformzeit von Rot-Grün, sie war geprägt von gesellschaftlichen Kraftakten: Abschied von der Atomenergie, Einstieg in das Zeitalter der Erneuerbaren Energien, kulturelle Aufbrüche, Ankommen in der Globalisierung, Umbrüche von sozialstaatlichen Sicherheiten, Ja zur militärischen Intervention im Rahmen internationaler Verpflichtungen und das Nein zum Irak-Krieg – sieben Jahre prall gefüllt von Konflikten.
Das neue Jahrhundert markiert einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte. Deutschland stellt sich der gewachsenen Verantwortung im Innern wie nach außen. Rot-Grün verabredete sich 1998, um Aufgaben einer nachholenden Modernisierung zu bewältigen. Die ökologischen Fragen brauchten endlich soziale Antworten. Sie mussten realistisch sein und pragmatisch und zugleich neue Horizonte öffnen. Sie sollten eingebettet bleiben in den globalen Verhältnissen der Dominanz des Westens, die Prozesse zu ihrer Veränderung zugleich verstärken und gestaltend über sie hinausweisen.
Aufbruch der inneren Unsicherheit
Das sozial-ökologische Bündnis war jahrelang gereift und doch schienen die Akteure, die es vorbereitet hatten, vom Erfolg ihres Projektes zunächst überrascht. Der politische Wille der Wählerschaft wollte sich Bahn brechen, um die „bleierne Zeit“ der Jahre der Erstarrung hinter sich zu lassen. Der Vorschuss an Vertrauen, den eine aktive Bürgerschaft Rot-Grün gewährte, deckte die innere Unsicherheit an der Spitze der SPD zu. Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine hatten sich wechselseitig versichert, die Macht zu erobern. Die politischen Ziele aber, die sie durchsetzen wollten, blieben solange hinreichend allgemein, bis sie Kanzler und Finanzminister wurden.
Dann aber brachen die Konflikte auf: Nach 136 Tagen endete der finanzpolitische „internationale Konfrontationskurs“ (Edgar Wolfrum) mit dem Ausscheiden des Parteivorsitzenden Lafontaine. Mit den gesellschaftlichen Wirkungen von Hartz IV trieb er in der zweiten Regierungszeit von Gerhard Schröder und Joschka Fischer sein populistisches Spiel. Die Partei „Die Linke“, entstanden aus gelenktem Protest im Westen und geschürtem Phantomschmerz der verloren gegangenen DDR, behindert seither die Chance, dass die SPD bundesweit zur stärksten Partei wird.
Die „unausgeschöpfte“ Reformära
Rot-Grün: Turbulenzen, ausgelöst von Anpassungsleistungen an den neoliberalen Modernisierungsdruck, geknüpft an Versuche, einen „Dritten Weg“ des Ausgleichs zu gehen, damit die Ziele der Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit nicht verloren gehen. Und: das hart und überzeugend trotzig formulierte Nein gegenüber George W. Bush zum Irak-Abenteuer, nachdem Deutschland sich in den jugoslawischen Nachfolgekriegen und in der Folge der Terroranschläge auf die USA, gegen innerparteilichen Widerstand für die NATO und für die UNO zu heftig umstrittenen militärischen Interventionen durchgerungen hatte.
Edgar Wolfrum bewertet die rot-grünen Reformanstrengungen auf Seite 712 seines starken Buches so: „Deutschland ist selbstbewusster geworden, und es wurden Türen geöffnet zu einer neuen Orientierung des Landes in einer veränderten Ordnung der Welt.“ Rot-Grün habe die „erste globale Regierung“ gestellt. Sie habe das „Ansehen Deutschlands in der Welt gemehrt, weil man spürte, dass sich diese Generation mit der Schuldfrage auseinander setzte und vor der Vergangenheit nicht auswich.“
Das Ende von Rot-Grün beschreibt der Autor als „vorzeitig und abrupt“ und die erste Reformära von Rot-Grün sei „unausgeschöpft“ geblieben. Das macht Mut, einen neuen Anfang zu wagen. Es gilt, an die Reformziele von Rot-Grün neu anzuknüpfen, damit der „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) gebändigt wird.
Edgar Wolfrum: Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998 – 2005. München 2013, 848 Seiten
ist emeritierter Professor und ehemaliger außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.