Als Marcel Reich-Ranicki 1995 den Roman "Ein weites Feld" von Nobelpreisträger Günter Grass verriss, sorgte er damit für internationale Furore: So verglich etwa der amerikanische Unterhaltungsautor John Irving Reich-Ranickis Buchbesprechung mit der nationalsozialistischen Bücherverbrennung 1933 und geißelte den großen Einfluss der Kritiker auf den deutschen Buchmarkt.
Bis 2002 zogen sich die Beanstandungen an dem als "Literaturpapst" bezeichneten Reich-Ranicki hin und erreichten mit dem satirischen Roman "Tod eines Kritikers" von Martin Walser einen bislang letzten Höhepunkt.
Deutsche Geschichte
Marcel Reich-Ranicki verkörpert wie vielleicht nur noch Günter Grass die historischen Verwirrungen und literarischen Entwicklungen des Deutschlands des 20. Jahrhunderts. Geboren 1920 in einer polnischen Kleinstadt wuchs Reich-Ranicki mit polnisch-jüdischen, durch seine Mutter aber vor allem mit deutschen Einflüssen auf. 1929 siedelte er zu Verwandten nach Berlin über, wo er 1938 das Abitur ablegte. Sein Immatrikulationsgesuch an der Friedrich-Wilhelm-Universität wurde jedoch aufgrund seiner jüdischen Abstammung abgelehnt.
Stattdessen wurde Reich-Ranicki nach Polen ausgewiesen, wo er sich bis Kriegsbeginn arbeitslos durchschlug und die polnische Sprache mühevoll wieder erlernte. 1940 wurde Reich-Ranicki von den nationalsozialistischen Besatzern im Warschauer Ghetto interniert, wo er als Übersetzer für den jüdischen Selbstverwaltungsrat arbeitete und erste Rezensionen in Ghetto-Zeitungen veröffentlichte. Kurz bevor das Ghetto 1943 aufgelöst wurde, gelang Reich-Ranicki mit seiner Frau Tosia die Flucht. In den folgenden Jahren lebte er im Untergrund, arbeitete später für den polnischen Auslandsnachrichtendienst und kehrte 1958, nachdem er sich mit der kommunistischen Regierung Polens überworfen hatte, nach Deutschland zurück.
"Gruppe 47", "FAZ" und Goethe-Preis
Hier schloss er enge Kontakte zu der literarischen "Gruppe 47", zu der unter anderem Siegfried Lenz, Heinrich Böll und Günter Grass gehörten. Ab 1960 rezensierte Reich-Ranicki deren Veröffentlichungen für die Wochenzeitung "Die Zeit", ab 1973 leitete er die Literaturredaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und setzte sich durch die Herausgabe diverser Sammelbände für die deutsch- deutsche Literatur der Nachkriegszeit und das kulturelle Erbe früherer Jahrhunderte wie vielleicht kein zweiter ein. Zahlreiche Ehrungen, so etwa der Thomas-Mann-Preis oder der Goethe-Preis, folgten seinem Engagement.
Trotzdem blieb Reich-Ranicki ein streitbarer Kritiker, was sich besonders bei seiner Fernsehsendung "Das Literarische Quartett" zeigte, in der zwischen 1988 und 2001 mit seinen Rezensionen bundesweit für Aufsehen sorgte und allgemeine Bekanntheit erlangte. Seitdem ist sein enormer Einfluss auf den Erfolg eines Buches jedoch umstritten.
Ein streitbarer Kritiker
Den letzten medienwirksamen Eklat verursachte Reich-Ranicki im vergangenen Oktober, als er für sein Lebenswerk mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet werden sollte, diesen aber ablehnte,
weil ihm das derzeitige Fernsehprogramm zu sehr von "Blödsinn" geprägt sei, mit dem er sich nicht identifizieren könnte. Seine Äußerung wurde äußerst zwiespältig aufgenommen: Während
Reich-Ranicki viel Beifall in der Öffentlichkeit erhielt, beispielsweise von seiner Kollegin Elke Heidenreich, zeigten sich die Fernsehsender ARD, ZDF, SAT1 und RTL, die als Veranstalter der
Preisverleihung fungierten, verschnupft.
Lange blieb unklar, wann die vielbeachtete Biografie "Mein Leben", die 1999 von Lesern und Kritikern gleichermaßen begeistert aufgenommen worden war, im ARD ausgestrahlt würde. Bernhard
Möllmann, Sprecher der ARD-Programmdirektion, lehnte einen von Erfolgsregisseur Zahavi vorgeschlagenen Sonntagstermin ab, da diese Tage ausschließlich den Kriminalserien "Tatort" und "Polizeiruf"
vorbehalten seien. Noch vor wenigen Monaten hingegen wurde dieses Tabu leichtfertig gebrochen: Der Spielfilm "Mogadischu" über den RAF-Terror 1977 wurde an einem Sonntag ausgestrahlt und erzielte
eine Tagesrekordeinschaltquote.
Für Reich-Ranicki hingegen wird dieser Platz nicht eingeräumt. Fraglich bleibt, ob die fünf Millionen Euro Produktionskosten unter diesen Umständen eingespielt werden können. "So viel Geld auszugeben, nur um den Film dann an so einem unmöglichen Termin zu versenden, finde ich unverantwortlich", kritisiert Regisseur Zahavi. "Das hat Marcel Reich-Ranicki nicht verdient!"
Tipp: Die Verfilmung der Autobiografie von Deutschlands einflussreichstem Literaturkritiker läuft heute Abend, 10. April, um 21.00 Uhr in arte und am Mittwoch, 15.04. um 20.15 im ARD.
Informationen zum Buch:
Reich-Ranicki, Marcel
Mein Leben
576 Seiten
ISBN 978-3-423-
13056-1
Euro 9,90 D 10,20 A
sFr 17,40
Mehr Informationen unter www.dtv.de
Bernhard Spring studiert Germanistik und Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und arbeitet als freier Autor.
erhielt 2008 den Literaturpreis des Landes Sachsen-Anhalt, 2011 erschien sein erster Roman, „Folgen einer Landpartie“.