Reflexionen über den Charakter der Zeit: Enzensberger im Brecht-Haus
Die Schlange der in das Literaturforum im Brecht-Haus Hineindrängenden riss nicht ab. Am Ende mussten die Letzten doch vor der Tür bleiben, immerhin unter komfortablem Bedingungen. Sie
erhielten Sitzgelegenheiten und die Veranstaltung wurde live zu ihnen in den Flur des Hauses in der Chaussestraße 125 in Berlin-Mitte übertragen.
Der 78-jährige Schriftsteller gehört offensichtlich zu den deutschen Ausnahmeerscheinungen, deren Meinung in politischen wie philosophischen Dingen stets von großem Belang bleibt und deren
Wandlungen weniger Angriffsfläche als vielmehr den Boden für Reflexionen über den Charakter der Zeit zu bieten vermögen. Dabei scheut er sich keineswegs, Kontroversen auszulösen wie etwa in
Kommentaren des Buches "Zickzack" zum Golfkrieg, zum Verschwinden der Utopien, zum "Terror der Verschwendung" oder zum Lyrikbetrieb.
Ungewöhnlicher Held
Im Brecht-Haus stellte Enzensberger sein neuestes Buch um den General Hammerstein vor. Bis zu Hitlers Machtantritt 1933 war jener Chef der deutschen Armee gewesen. Vom neuen Machthaber
umworben wählte er einen unspektakulären Weg, sich dessen Drängen zu entziehen. Er nahm seinen Hut, sprich: seinen Abschied von der Armee.
Mit Freude erzählte und las der Autor von der Persönlichkeit des Kurt von Hammerstein, der ein professioneller Militär und ein anständiger Mensch gewesen war, jedoch nicht eigentlich das, was
man für gewöhnlich unter einem Helden versteht.
Doch genau darum geht es Enzensberger wohl Zeit seines Lebens: Klischees aufzubrechen, die groben Raster ideologischer Zeitbetrachtungen mit dem grauen Sand des Differenzierens zu
unterhöhlen, bis sie in sich zusammenbrechend den Blick auf Menschliches freilegen. Seine Essaybände wie etwa "Literarische Nomaden" haben es schwer, den "richtigen Platz" in den Regalen der
Buchhändler zu finden, denn sie lassen sich keiner Schublade zuordnen.
Eigensinniger Mensch
Der Autor gehörte zur Gruppe 47, zu den Schriftstellern (wie auch Günter Grass), die unmittelbar nach Kriegsende nach neuen Wegen des Denkens und Schreibens suchten. Er ist immer ein
eigensinniger Mensch gewesen. Das hat er mit seinem Hammerstein gemeinsam, obwohl der Militär war und Enzensberger feinsinniger Literat und Philosoph ist. Der Militär Hammerstein, dessen Frau einen
am Kapp-Putsch beteiligten Offizier zum Vater hatte, war ein Hüter der Toleranz. Er lebte sie gemeinsam mit seiner Frau in der Familie. Zwei seiner Töchter verbanden sich mit jüdischen Kommunisten.
Einer seiner Söhne entkam am 20. Juli 1944 nach dem Attentat auf Hitler knapp aus dem Bendler-Block. Dank der darin befindlichen Dienstwohnung des Vaters, und der Mit-Nutzung durch die Familie
verfügte er über intime Kenntnis des Ortes. Dies half ihm.
Der alte Hammerstein hatte keinen Bürgerkrieg gewollt, doch den Widerstand, der sich in seinem Umfeld gegen Hitler regte, förderte er offenbar stillschweigend. Es sei nicht so einfach mit der
deutschen Geschichte, wie sich die Schubladen-Verwalter dies gern vorstellten, weiß der Autor darzulegen und dies auch gleich auf die jüngere Geschichte zu transportieren.
Zu große Schuhe?
Die heutige heftige Kritik etwa an den 68ern lenke mitunter von den tatsächlich anstehenden gravierenden Problemen ab. Fakt sei allerdings, dass sie "zu große Schuhe" getragen hätten. "Man
mache nicht zweimal dieselbe Revolution." Marx' Bonmot, den geistreichen Ausspruch von der Farce, zu der eine Revolution in der Wiederholung werde, wollte er zwar nicht bemühen, doch das wäre die
Richtung. Selbst eher patriarchalisch in der Realität und überdies in der Realität damals ohne breites Hinterland hätte übrigens der Aufbruch subjektiv den Frauen und der Gesellschaft insgesamt
doch einiges gebracht.
Die zu großen Schuhe trägt einer, der einen weiten Weg zu gehen hat, mitunter. Hat sie Enzensberger selbst getragen? Möglich. Ein "Wir" wird da angesprochen, das die Auseinandersetzungen in
der Gruppe 47 fortgesetzt haben mag. Die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges beförderte bei Intellektuellen schließlich ein intensives Nachdenken über das, was im Geistigen und im gelebten Alltag
zu tun sei, damit sich Solches nicht wiederhole.
Umtriebiger Geist
Die Beschäftigung mit der Realität der von Hammersteins geht schon auf die 50er Jahre zurück. Von einem grundsätzlichen Wandel in den Themen ist da kaum zu sprechen. Das Öffnen der Archive
nach 1989 gab die Gelegenheit zu gründlicherer Recherche. Handschriften zu lesen gehört zur Profession dieses Autors, dem promovierten Literaturwissenschaftler. So erhielt sein umtriebiger Geist
neue Nahrung.
Von Gedichten eines "zornigen jungen Mannes" hat Alfred Andersch 1957 angesichts Enzensbergers Lyrik-Erstlings "Verteidigung der Wölfe" gesprochen. Heute wirkt der Autor eher abgeklärt. Doch
das Feuer brennt noch. Das war an diesem Donnerstagabend zu spüren. Von der gesellschaftlichen Utopie habe er Abschied genommen. Was wäre denn die Utopie? Im Hammerstein-Buch war durchaus auch
Utopisches enthalten. Wirtschaftswunderwelten hat Enzensberger nie getraut. Das ist vielleicht auch eine gute Voraussetzung, sich den heutigen Krisen zu stellen.
Dorle Gelbhaar
Hans Magnus Enzensberger: Hammerstein oder Der Eigensinn, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 375 Seiten, 22,90 Euro, ISBN-13: 978-3518419601