Kultur

„Putin ist der größte Oligarch“

von ohne Autor · 16. November 2011
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vorwärts.de: Offensichtlich spielen für den früheren und wohl auch künftigen russischen Präsidenten Wladimir Putin Emotionen eine große Rolle im Konflikt mit Chodorkowski. Ist das kein Widerspruch zu seinem Bild als unerschrockener Macher?

Wenn das alles nicht so tragisch wäre, könnte es witzig und spannend sein. Diese beiden Typen kontrollieren ihre Gefühle. Aber unter der Oberfläche brodelt ein Vulkan. Der Hauptgrund für den Konflikt war sicherlich ein Testosteron-Problem. Zwei Alphatiere haben gepokert. Und die erste Runde ging an Putin.

Cyril Tuschi: Die martialische Festnahme Chodorkowskis vor acht Jahren und beide Prozesse gegen ihn waren Machtdemonstration und Farce zugleich. Hat sich der Kreml damit nicht lächerlich gemacht?

Es gilt in Russland als Zeichen von Stärke, wenn Du etwas tust, was andere uncool finden und Du dennoch im Sattel bleibst.

"Indem wir die Staatsmacht korrumpieren, schaffen wir es, dass sie verfault, und wir sie gegen eine neue auswechseln", wird Chodorkowski in Ihrem Film zitiert. Was haben Sie über seine politischen Pläne erfahren?

In Russland, so sagt man dort, wird ein Jude oder Halbjude niemals Präsident. Chodorkowski ist Realist genug, um sich damit zu arrangieren. Ich glaube, er wollte Premier werden und sein Land, wie zuvor den Yukos-Konzern, technologisch und logistisch optimieren: zum Wohl der Menschen und der Märkte. Von ihm finanzierte Bildungsinstitute wie Open Russia oder Fortbildungseinrichtungen für Journalisten kann man utopistisch sehen. Nach dem Motto: Eine aufgeklärte Gesellschaft wird nie wieder dem Totalitarismus anheimfallen. Putin hat auch das als Bedrohung gesehen. Als hätte Chodorkowski gesagt: "Ich baue im Untergrund eine Kaderschmiede auf und werde Dich eines Tages aus dem Kreml jagen."

Sie und andere Beobachter meinen, im Gegensatz zu den Neunzigern kontrolliere heute der Kreml die Oligarchen. Ist der Machtkampf entschieden?

Im Moment schon. Putin ist der größte Oligarch. Leute aus Moskau sagten mir: "Wenn ich Chef wäre, wäre ich auch der Reichste." Diese Akzeptanz des Rechts des Stärkeren! Ein Beispiel: Alexander Lebedew, der mit Gorbatschow die kremlkritische Zeitung Nowaja Gaseta finanziert, saß mit einem anderen Immobilien-Oligarchen in einer Talkshow. Lebedew stand auf und katapultierte ihn mit einem Kinnhaken vom Studioset. Das sind also seine Geschäftsmethoden! In Internet- Kommentaren hieß es "good job, Alexander!".

Seit der Premiere von "Der Fall Chodorkowski" auf der Berlinale sind neun Monate vergangen. Hatten Sie Schwierigkeiten, einen Verleih zu finden?

Den Verleih-Vertrag hatte ich schon während des Drehs. Dass der Film erst jetzt anläuft, hatte eher technische Gründe. Die deutsche Fassung war im Februar noch nicht fertig. Als ein paar Monate vergangen waren, entschlossen wir uns, den Film zu den russischen Duma-Wahlen herauszubringen. Es gab also auch eine politische Motivation.

Anfang Dezember läuft Ihr Film in Russland an. Waren die dortigen Verleihfirmen enthusiastisch?

Die großen Unternehmen haben abgelehnt und gesagt: "Wir wollen nicht raus aus dem Geschäft sein." Jetzt macht es eine Frau, die nicht sehr erfahren, aber sehr engagiert ist: Olga Papernaja vom Moskauer Kinoklub. Gerne würde ich mit dem Zug von Ostsibirien, wo Chodorkowski zuerst gefangen war, bis zu seinem jetzigen Gefängnis in Karelien fahren und den Film unterwegs in jedem Dorf vorführen.

Wie liefen die Dreharbeiten? Gab es Schikanen?

Bürokratische Notwendigkeiten wie Anmeldungen und Visa habe ich übererfüllt. Bevor wir nach Sibirien gefahren sind, habe ich mir Papiere und Stempel vom Bayerischen Rundfunk besorgt. Es hat gewirkt!

Die unglaublichste Szene ist Ihr Gespräch mit Chodorkowski im Gerichtssaal. Sie sagten, das sei vor allem deswegen möglich gewesen, weil am gleichen Tag die Justizministerin vor Ort war. Dennoch ist es erstaunlich, dass das Interview zustande kam.

Trotz des guten Timings mit der Ministerin haben viele gedacht, irgendwer hätte mich bezahlt oder ich sei ein Doppelagent. Die Behörden haben einfach einen Fehler gemacht, als sie mir die Zusage erteilten.

In jenem Interview gibt Chodorkowski zu, die Chance zur Flucht vertan und sich in Russlands Justiz geirrt zu haben. War er naiv oder ist er ein Opfer seiner Arroganz geworden, die ihm angekreidet wird?

Beides stimmt. Er selbst sagt, er sei nicht weise genug gewesen.

Viele sprachen vom einem Schauprozess. Sehen Sie Parallelen zur Kampagne gegen Julia Timoschenko in der Ukraine? Ist der Fall Chodorkowski zum Modell geworden?

Man kann die beiden Fälle nicht miteinander vergleichen, wohl aber die Methode nachvollziehen. Warum ist Chodorkowski immer noch im Gefängnis? Weil es sich als Modell zur Abschreckung eignet - obwohl der Kampf mit Putin längst gelaufen ist.

Für Ihren Film befragten Sie vor allem Wegbegleiter aus Wirtschaft und Politik. Wie denken Leute von der Straße über den Prozess?

Entweder ist er ihnen egal oder sie sagen das, was auch Putin immer wieder von sich gibt: Chodorkowski ist ein Dieb. Und ein Dieb gehört ins Gefängnis.

Warum wollten prominente Reformer wie Anatoli Tschubais und Grigori Jawlinski nicht mit Ihnen über Chodorkowski reden?

Das hat mich überrascht. Zu viele Leute in Russland arrangieren sich.

Weil sie um ihren Kopf fürchten?

Ja. Ein Beispiel: Jawlinskis Sohn wurde entführt. Seine Kidnapper trennten ihm einen Finger ab.

Kommen wir zu Ihnen. Mehrmals verschwand Filmmaterial, Sie haben Ihre Wohnung gewechselt. Wie gefährlich ist es, einen Film über Russlands Opposition zu drehen?

Als das Material geklaut wurde, hatte ich wirklich Angst. Es war aber nicht meine Absicht, einen Film über die Opposition zu machen. Ich geriet notgedrungen in dieses Fahrwasser und möchte an das glauben, was mir alle gesagt haben: Wenn Du als Deutscher so einen Film machst, kann Dir nichts passieren.

Was haben Sie während der fünfjährigen Arbeit über Russland und Chodorkowski gelernt?

Dass patriarchalische Strukturen Russlands Gesellschaft grundlegend bestimmen - anders als in Deutschland, selbst wenn es auch hier Patriarchalismus gibt.

Wie geht Chodorkowski mit diesem reaktionären Mainstream um?

Er ist weniger russisch als andere Russen. Deshalb propagiert er westliche und zivilisatorische Ideen. Dennoch glaube ich, dass er die patriarchalische Logik kennt und damit umzugehen weiß. Er ist das Kind zweier Welten: Komsomol und sozialistische Helden auf der einen Seite, Kapitalismus, Moderne und Fortschritt auf der anderen.

Die früheren Koalitionäre Joschka Fischer, den Sie im Film interviewen, und Gerhard Schröder - ihn zitieren Sie aus einem TV-Gespräch - äußern sich zurückhaltend bis abwiegelnd zu Chodorkowskis Lage. Welche Signale hatten Sie sich erhofft?

Schröder hat ein Interview leider abgelehnt. Von Fischer war ich enttäuscht. Er sagte: Das Primat haben die Wirtschaftsbeziehungen, danach kommen die Menschenrechte. Das laufe überall so. Erst das Fressen, dann die Moral.

Info:

"Der Fall Chodorkowski" startet am 17. November in den deutschen Kinos. Mehr zum Film unter www.derfallchodorkowski.de

Zur Person:

Der Regisseur und Produzent Cyril Tuschi wurde 1969 in Frankfurt am Main geboren. Sein Langfilmdebüt bestritt er mit dem Roadmovie "Sommerhundesöhne". Mit seiner Berliner Produktionsfirma Lala Films bereitet er ein Drama über Wikileaks und den umstrittenen Gründer Julian Assange vor.

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