Poeten und Kalaschnikows
Die Politik bildet darin allerdings eher eine Art Hintergrundrauschen. Regisseur Stanislaw Mucha zeigt Menschen in ihrem Alltag, der häufig ein täglicher Kampf ums wirtschaftliche Überleben ist, wo sich jeder auf sich selbst verlässt, anstatt auf übergeordnete Strukturen zu vertrauen. Von dort, so der Eindruck gerade im postsowjetischen Raum, ist selten Gutes zu erwarten.
Im Sommer 2013 umrundete Mucha mit seinem kleinen Team drei Monate lang das Schwarze Meer. Vieles, was wenig später für beunruhigende Nachrichten sorgen sollte oder dies bereits tat, schwingt in dem Ergebnis der Reise mit: das miserable Ansehen der Kiewer Zentrale auf der Krim, der zunehmende russische Chauvinismus, Ausgrenzungserfahrungen auf Seiten der Krim-Tartaren und das Vorantreiben des olympischen Traums in Sotschi auf Kreml-Art.
Grenzen überwinden
Doch es waren nicht jene Gegenwartserscheinungen, die Mucha zu diesem bisweilen aufreibenden Trip veranlassten, dessen cineastischer Ertrag größtenteils von einer fast märchenhaften und skurrilen Leichtigkeit ist, obwohl Mucha mitunter mit hohem Aufwand sprichwörtlich Grenzen überwinden musste – mittlerweile sind neue hinzugekommen. Vielmehr geht es um die Mythen der Vergangenheit und die Frage, welche Spuren sie hinterlassen haben. Gibt es gar einen kollektiven Erfahrungsraum oder kochen all die Völker und Kulturen am Schwarzen Meer ihr eigenes Süppchen?
Da wäre zum Beispiel eine Episode aus der Biografie des 1970 in Polen geborenen Filmemachers. Einst schwärmte dessen Großmutter, die zum Teil von Krim-Tartaren abstammte, von der heilenden Kraft des Klimas und des Schlamms an dortigen Gestaden. Jener Ruf machte das Gewässer, das in klassischen Literatur des 19. Jahrhunderts auch das „gastliche“ oder das „vielsprachige Meer“ genannt wurde, zum beliebten Ziel der zaristischen Eliten und später der Werktätigen.
Aber auch die Überlieferung aus der Antike ist Teil des geistigen Überbaus, den Mucha mit lakonischer Ironie immer wieder durchblicken lässt. Wer kann sich noch daran erinnern, dass der Poet Ovid einst an die nördliche Schwarzmeerküste verbannt wurde, die aus römischer Sicht als Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei fungierte? Der Dichter verzweifelte am dortigen Ambiente und schrieb sich seine Nöte in den Elegien „Tristia – Briefe aus der Verbannung“ von der Seele. Ein Titel, den der russische Dichter Ossip Mandelstam wieder aufgriff, als er Anfang des vergangenen Jahrhunderts ebenfalls Gelegenheit bekam, im „Schlamm-Imperium“ über das Exil und den Verlust jeder Menschlichkeit zu reflektieren.
Frustration und Lebenslust
Mit diesem kulturellen Erbe konfrontiert Mucha immer wieder die Menschen, die in den kurzen Interviewpassagen häufig mehr über sich und ihren Blick auf die Welt preisgeben, als man erwarten würde. Häufig sind dies Menschen, deren Leben herzlich wenig mit schöngeistigen Betrachtungen zu tun hat, die aber dennoch überraschende Bezugspunkte erkennen lassen. Wie sollte es in der ukrainischen Stadt Ovidopol, die dem zwangsverschickten Römer ihren Namen verdankt, auch anders sein?
Die Sehnsucht nach einem besseren Gestern oder Morgen, gespenstische politische Phrasen, erschütternde Gewalterfahrungen und ein bitterböser Blick auf ein korruptes Gemeinwesen, das den Menschen erst recht das Gefühl gibt, sich selbst überlassen zu sein: Auf der Reise von der Ukraine über Russland, Abchasien, Georgien und die Türkei bis nach Bulgarien und Rumänien durchlebt der Zuschauer ein Wechselbad der Stimmungen. Zugleich spinnt sich eine ausgeprägte Lebenslust und Lebensgier durch die einzelnen Szenen. Etwa auf einem Markt in Odessa, wo Kunden zwischen Hundebabys, Kalaschnikows und Wehrmachtsnippes wählen können: ein verwirrender Reichtum an Waren und Charakteren mit bleibenden Schwingungen.
Der behäbige Erzählfluss lebt von langen Einstellungen mit oftmals nur in Badebekleidung angetroffenen Gesprächspartnern. Das erinnert mitunter eher an Fotografie als an Film, trägt aber einiges zur intensiven Wirkung dieser letztendlich auf Momentaufnahmen beruhenden und von leisem Witz durchzogenen Erzählung bei.
Botox am Strand
Noch vor wenigen Jahren mussten westliche Kamerateams um das von russischen Truppen besetzte Abchasien in Georgien – dort tobten zuletzt 2008 Kämpfe – einen Bogen machen. So ist es eine kleine Sensation, dass Mucha diese Lücke schließen konnte. Jene Etappe zählt obendrein zu den eindringlichsten. Als würden die zerschossenen Fassaden all den ausgelassenen Festivitäten Hohn sprechen. Dort gelingt ein Tiefgang, der sich angesichts der kompakten Filmlänge von gut 90 Minuten nicht in jedem Land durchhalten ließ. So fällt der Blick auf die Türkei und Bulgarien eher schlaglichtartig aus. Umso beeindruckender ist die Fülle an kapitalistischen Skurrilitäten in dem Donaustaat: Wie wäre es beim nächsten Schwarzmeer-Urlaub mit einer Botox-Spritze am Strand? Nicht nur in Bulgarien wirft die Zukunft ein diffuses, grelles Licht.
Info: Tristia - eine Schwarzmeerodyssee (Deutschland 2014/2015), ein Film von Stanislaw Mucha, Kamera: Andrzej Krol, OmU, 98 Minuten.