Plötzlich Heimweh: Wie eine Chinesin in der Schweiz eine neue Heimat findet
Heimweh? Yu Hao musste fast 40 Jahre alt werden, um herauszufinden, was dieses Gefühl bedeutet. Als sie noch in China lebte, hielt sie es nie länger als ein paar Jahre an einem Ort aus. Die erfolgreiche Fernsehjournalistin war viel unterwegs, immer auf der Such nach neuen Menschen und Erfahrungen. Ende der 90er-Jahre reist sie mit ihrem Team zum ersten Mal in die Schweiz. Es wird die vielleicht wichtigste Weichenstellung ihres Lebens.
Nie war die Menschheit so mobil wie heute. Dieser Umstand mag dazu beitragen, dass viele Zeitgenossen Probleme haben, sich auf einen Ort dauerhaft einzulassen. Bei der 1977 geborenen Regisseurin, die zugleich auch die Protagonistin dieses Films ist, kam seinerzeit hinzu, dass sie sich seit ihrer Kindheit als Außenseiterin fühlte.
Begegnung mit Brauchtum
Doch in der Eidgenossenschaft wird alles anders. Wenige Jahre nach der ersten Reise beschließt Yu Hao, auch motiviert durch eine neue Liebe, sich dort länger niederzulassen. Durch die Begegnung mit dem Alltag und dem trachtenfreudigen Brauchtum in der ländlichen Ostschweiz findet sie nicht nur zu sich selbst, sondern auch jene Vertrautheit, die sie, bei aller Begeisterung für das rastlose Dasein, insgeheim immer gesucht hat.
„Ich habe einen Ort gefunden, wo ich meine innere Ruhe habe, mich nicht mehr anders fühle“, sagt sie. Man ahnt, dass Yu Hao womöglich erst dort bereit war, sich den schmerzhaften Seiten ihrer Familiengeschichte zu stellen. Ihre Eltern lernten sich kurz nach der verheerenden „Kulturrevolution“ unter Mao kennen, doch dieser Strang bleibt unterbelichtet.
Während der ersten Jahre, als sie wenig Deutsch sprach, war die Kamera ihr wichtigstes Instrument, um mit der Außenwelt zu kommunizieren. Gut zehn Jahre lang filmte Yu Hao Begegnungen mit den Menschen im Appenzellerland, die scheinbar ganz anders sind als sie. Die meisten von ihnen haben die Gegend nie verlassen, sprechen keine Fremdsprache, pflegen scheinbar skurrile Traditionen und sind religiös.
Zu den berührendsten Szenen zählt die Begegnung mit einem 13-Jährigen, der den ganzen Sommer allein auf einer Alm verbringt, um Kühe zu hüten. Nicht nur in diesem Fall gelingt es Yu Hao, innerhalb eines scheinbar zur Konformität verdammten Kontextes interessante Persönlichkeiten zum Leuchten zu bringen, die obendrein Züge eines „Sonderlings“ tragen. Das Spiel mit Gemeinsamkeiten nimmt sie immer wieder auf.
Zerrissenes Leben
Aus dem über Jahre angehäuften Material formte Yu Hao eine Geschichte über eine Reise, die mit dem Ende des Films längst nicht abgeschlossen ist. Chronologisch erzählt „Plötzlich Heimweh“ die Entwicklung der Protagonistin von den Nullerjahren bis heute. Im ständigen Wechsel werden dokumentarische Aufnahmen aus ihrem Alltagsleben in der Schweiz und von den Reisen zu Familie und Freundin in China gegeneinander geschnitten.
Das spiegelt einerseits die Yu Haos Zerrissenheit wider, schließlich fiel ihre Liebe zur Heimat in der Ferne nicht vom Himmel. Der Kontrast illustriert aber auch, wie verschieden sie die beiden Länder erlebt hat: Hier die beschauliche Alpenwelt, dort monströse Großstädte. Das ist mitunter hart am Klischee, wenngleich der individuelle Fokus der Regisseurin, die mittlerweile vor allem als Kuratorin von Ausstellungen zur Folklore-Kunst tätig ist, stets sichtbar bleibt.
Persönlicher Blick
„Plötzlich Heimweh“ versteht sich nicht als politischer Film, wenngleich das Thema Zuwanderung in der Schweiz, mit einer Migrantenquote von 25 Prozent in der weltweiten Spitzengruppe, nicht nur aufseiten der Politik immer wieder heftig diskutiert wird. Vielmehr wird ein überraschender, stark persönlich gefärbter Blick auf die Wechselwirkung zwischen Zugewanderten und Dortgebliebenen geworfen.
Hier geht es nicht um Probleme der Integration, sondern darum, wie ein Mensch durch die Begegnung mit einer anderen Kultur eine Veränderung, wenn nicht gar eine Bereicherung, erfährt. Auf den ersten Blick mag Yu Hao in dieser Szenerie wie ein Fremdkörper wirken. Im Laufe der Zeit wird aber deutlich, wie sie immer mehr Teil des Ganzen wird, ohne dabei sich selbst zu vergessen.
Info: „Plötzlich Heimweh“ (Schweiz 2019), ein Film von Yu Hao, mit Yu Hao u.a., 78 Minuten
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