Kultur

„Organisiertes Massenverbrechen“

von Helmut Lölhöffel · 6. November 2013

Über die Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 sind zahlreiche Bücher erschienen. Dieses Ereignis, das lange Zeit verniedlichend und verharmlosend als „Reichskristallnacht“ bezeichnet worden ist, dürfte eines der am besten erforschten und am genauesten dargestellten historischen Daten sein. Trotzdem kommen noch Fundstücke zutage, die diesen Tag, einen der dunkelsten der deutschen Geschichte, etwas erhellen.

„Eine Nacht im November 1938“ heißt der ziemlich unspektakuläre Titel dieser Schrift von Konrad Heiden. Sie hat nur 99 Seiten. Doch der Inhalt ist aufwühlend und explosiv. Heiden (1901-1966) war einer der erfolgreichsten politischen Publizisten während der Nazizeit, der über Zürich, Paris und Lissabon in die USA geflüchtet war und im Exil damals Aufsehen erregende Bücher schrieb. Heute ist er vergessen, es gibt nicht einmal eine Biografie.

Das erste Manuskript dieses Buchs war schon um die Jahreswende 1938/39 fertig. Aber es durfte auf Deutsch nicht erscheinen, nur eine amerikanische Ausgabe sowie eine französische und eine schwedische Übersetzung kamen heraus. Nun, 75 Jahre danach, liegt erstmals die deutsche Fassung vor. Was Heiden damals in blitzartiger Geschwindigkeit zusammengesucht und zusammengestellt, analysiert und kommentiert hat, ist aus heutiger Sicht kaum zu fassen. Seine Quellen waren die NS-Presse und ausländische Zeitungen sowie Augenzeugenberichte des Jewish Central Information Office und der Exil-SPD.

„Bestialität als Gemeinschaftsrausch“

In einer Klarsichtigkeit, die zugleich erstaunlich und erschütternd ist, hat er streitbar und bissig, teilweise gehässig, das grauenvolle Brennen und Rauben, Plündern und Morden aufgezeichnet. Wieder einmal tauchen die schon oft gestellten Fragen auf:  Warum hat die Mehrheit der Deutschen alle diese Geschehnisse nicht sehen wollen, die Konrad Heiden schon erkannte? Warum haben sie Untaten gebilligt oder befürwortet, die auch nach damaligen Maßstäben Verbrechen waren? „Wo war das deutsche Volk?“, heißt das letzte Kapitel. Die breiten Massen haben sich an den Exzessen des 9. und 10. November 1938 nicht beteiligt. Aber die Mehrheit der Bevölkerung verharrte passiv und stumm. „Bestialität als Gemeinschaftsrausch“, schrieb Heiden, „ringsum stand das versammelte Volk und sah zu“.

Konrad Heiden beschrieb die gewöhnliche, stumpfsinnige Barbarei aufgehetzter Deutscher, die angeblich – so die NS-Propaganda – kollektiv empört über die Ergreifung eines jüdischen Attentäters waren. Doch in Wahrheit, so wird eindringlich und unvergesslich klar, war es ein vorbereitetes, von oben angeordnetes und organisiertes Massenverbrechen.

Zusätzlichen Wert erhält das Buch durch einen Lebenslauf des Autors. Sorgfältige Anmerkungen und umfangreiche Erläuterungen runden die Texte ab.

Konrad Heiden: Eine Nacht im November 1938. Ein zeitgenössischer Bericht. Hrsg.: Markus Roth, Sascha Feuchert, Christiane Weber. Wallstein Verlag Göttingen 2013. 192 Seiten, 19,90 Euro.

Autor*in
Helmut Lölhöffel

lebt als freier Publizist in Berlin. Er war Redakteur beim Kölner Stadt-Anzeiger, bei ddp, der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Rundschau sowie Sprecher des Berliner Senats und Unternehmenssprecher.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare