Ist die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten in Deutschland noch zeitgemäß? In ihrem Buch „Das Menschenmögliche“ blasen Harald Welzer und Dana Giesecke zum großen Entrümpeln der Pädagogik und Gedenkstättenarbeit.
Harald Welzer ist eine der wichtigsten Stimmen, wenn es um die sozialpsychologische Deutung der NS-Zeit geht. In „Mein Opa war kein Nazi“ untersuchte er das Alltagsverhalten der Menschen und zugleich die Art und Weise, wie sich Familien später an diese Zeit erinnerten. Seine Studie „Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“, beschäftigte sich mit der Persönlichkeitsstruktur von Angehörigen der Einsatzgruppen und nahm Genozide der Gegenwart in den Blick.
Umso fader ist der Beigeschmack, den sein Pamphlet zu neuen Wegen in der musealen und pädagogischen Aufarbeitung der braunen Vergangenheit hinterlässt. Es entstand in Zusammenarbeit mit der Soziologin Dana Giesecke. Zusammen leiten sie „Futurzwei. Stiftung Zukunftsfähigkeit“. Die Initiative hat es sich zur Aufgabe gemacht, alternative Lebens- und Wirtschaftsformen aufzuzeigen.
So hat dann auch „Das Menschenmögliche“ nichts Geringeres als die große Alternative im Sinn. Oder, wie es in der Unterzeile heißt, um die „Renovierung der deutschen Erinnerungskultur“. Die sei fast sieben Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs bitter nötig: Zu sehr sei die Arbeit von Museen und Gedenkstätten auf die „Dämonisierung des Bösen“ aus.
Nazis und Klimawandel
Für die nachwachsende Generation der Gegenwart würden neue Herausforderungen wie Globalisierung und Klimawandel bestehen. Damit stehe auch die Erinnerungskultur und die pädagogische Vermittlung des Nationalsozialismus vor neuen Herausforderungen. Beides müsse Orientierung für das Jetzt und Handlungsangebote für die Zukunft machen – zum Beispiel im Umgang mit Flüchtlingen – , anstatt ausschließlich rückwärts zu schauen. Nur durch eine gründliche „Modernisierung“ könne die Erinnerung an diese Zeit zur „produktiven Instanz politischer und historischer Bildung für die Demokratie des 21. Jahrhunderts“ werden.
„Aus unserer Sicht ist es eine der rätselhaftesten Eigentümlichkeiten des 'Erinnerungswesens', dass es vor allem den Schrecken erinnert, nicht aber diejenigen, die etwas getan haben, um ihn zu verhindern oder wenigstens abzumildern“, schreiben die Autoren. Ihnen geht es darum, Handlungsspielräume, im Guten wie im Schlechten, stärker in den Vordergrund zu rücken.
Anders gesagt: Was trieb die einen zur Karriere bei der SS und die anderen in den Untergrund? In welche gesellschaftlichen Strukturen waren diese Optionen eingebettet? Und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen, um heutzutage gegen Ausgrenzung vorzugehen und die Jugendliche für die Demokratie zu begeistern? Um also nicht zum Täter, sondern zum Helfer zu werden?
Voll das Leben
Als Ort für die Vermittlung dieser Handlungsspielräume regen Welzer und Giesecke eine „lernende Institution“ an. Sie nennen es das „Haus der menschlichen Möglichkeiten“. An jenem Ort, wo ein „partizipatives Geschichtslernen“ gepflegt werden soll, könnten sich die Heranwachsenden mit eigenen Projekten wie Sonderausstellungen einbringen: In einem aufklärerischen und emanzipativen Klima würde das „Leben selbst interessant, nicht nur das historische Exempel, wie man es zerstören kann“.
Wie all das vor sich gehen soll, bleibt weitgehend offen. Eines ist für die Autoren zumindest klar: Zeitzeugen finden in diesem Kontext wenig Platz. „Nur weil jemand zu einer bestimmten Zeit geboren wurde, hat er noch nichts zu weiterzugeben“, heißt es in dem Buch.
Es ist eine der ärgerlichsten Stellen der Streitschrift. Wie, wenn nicht durch Einzelschicksale, sollen junge Menschen Empathie für Geschichte und für die Lehren, die aus ihr zu ziehen sind, entwickeln? Es steht außer Frage, dass derlei Veröffentlichungen davon leben, pointierte Diskussionsangebote zu machen. Doch einige Passagen zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus wirken derlei verzerrt und einseitig, dass man sich fragt, ob die Autoren die Debatten der vergangenen 30 Jahre ganz bewusst ignoriert haben
Schuld und Verweigerung
Schließlich werden die Nazi-Herrschaft und damit auch der Holocaust seit Jahrzehnten in Wissenschaft und medialer Öffentlichkeit „entzaubert“. Von einem festgefahrenen oder mythologischen Geschichtsbild kann also keine Rede sein. Nicht zuletzt die Wehrmachtssausstellung und die Goldhagen-Debatte in den 90er-Jahren zogen eine breite gesellschaftliche Debatte darüber nach sich, warum und wie so viele als Individuum die Barbarei unterstützten oder erduldeten, während andere sich dem verweigerten. An Universitäten und Schulen ging all das nicht spurlos vorbei. Außerdem fragt man sich, wann die beiden zum letzten Mal eine NS-Gedenkstätte betreten haben. Nicht nur in Buchenwald ist politische Aufklärung seit Langem fester Bestandteil der Bildungsarbeit mit Jugendlichen.
Umso nebulöser und technokratischer fällt Welzers und Gieseckes „Alternative“ aus. Nicht nur, dass das angedachte „Haus der menschlichen Möglichkeiten“ skizzenhaft in den Raum gepustet wird. Auch die Frage, wie Jugendliche Handlungsoptionen entwickeln sollen, wenn das eigentliche historische Wissen unterbelichtet ist, bleibt offen. Für ein Großreinemachen auf dem weiten Feld der Erinnerung ist das alles herzlich wenig.
Dana Giesecke/Harald Welzer: „Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur“, Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2012, 187 Seiten, 15 Euro, ISBN 978-3-89684-089-9