Kultur

Nordlandsehnsucht oder Was wir nach dem Wohlfahrtsstaat noch an Schweden spannend finden

von Martin Schmidtner · 13. März 2012

Seit drei Jahren berichten wir im Vorwärts über den Eurovision Song Contest. Populäre Unterhaltung in einem politischen Magazin ist für viele erst mal verwunderlich, doch eine kontinuierlich ansteigende Leserschaft zeigt, dass auch daran Interesse besteht. Seit zwei Wochen sind alle bisherigen Beiträge unseres ESC-Blogs leider von der vorwärts-Website verschwunden – nicht aus redaktionellen Gründen, sondern wegen einer Software-Umstellung- Wir berichten natürlich weiter, auch alle alten Beiträge sollen in Kürze wieder zugänglich sein und das ESC-Blog wird es weiterhin geben.

Leider fiel die Software-Umstellung in eine Zeit, in der die meisten Entscheidungen für den kommenden ESC fallen, weshalb wir über vieles leider nicht berichten konnten – wir werden dies nachholen und beginnen mit einem Blick auf Schweden – einem sehr neidvollen Blick.

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Melodifestivalen – ein schwedisches Erfolgsrezept

Eigentlich war es ganz klar: es musste etwas geschehen! Nach dem unglaublich ermüdenden, zähen und langweiligen deutschen Vorentscheid Unser Star für Baku hatten wir etwas Schwung und Aufmunterung nötig und beschlossen, uns mal vor Ort anzusehen, wie andere teilnehmende Länder ihren Song für den Eurovision Song Contest küren.
Und dies führte uns am vergangenen Wochenende natürlich nach…Schweden!
Schweden ist nicht nur die Heimat von ABBA, sondern ein ganz klein wenig auch die Heimat des Song Contests. Es war ein Schwede, Svante Stockselius, der in den letzten Jahren (2003-2010) in seiner Funktion als EBU-Supervisor die Geschicke des größten Musik-Spektakels der Welt maßgeblich mitprägte. Und es ist Schweden, das mit seinem Melodifestivalen so etwas wie die Mutter aller Vorentscheide ausrichtet. Keine Kandidatenkür ist so publikumswirksam und von einem solchen öffentlichen Interesse begleitet wie der schwedische Vorentscheid.

Melodifestivalen ist fast so alt wie der ESC selbst: Seit 1959 darf der Sieger oder die Siegerin dieses Vorentscheids Schweden beim ESC vertreten. Bis 1998 wurden dabei die Gewinnerinnen und Gewinner von einer Jury bestimmt, seit 1999 dann per Televoting. Die einschneidendste Veränderung wurde jedoch 2002 von Svante Stockselius eingeführt. Er baute das Melodifestivalen von einer einzelnen Fernsehshow zu einem Event – bestehend aus regionalen Vorrunden und einem Second-Chance-Wettbewerb aus. Zwar war dies schon lange vor ihm angedacht worden, doch das schwedische Fernsehen befürchtete, das Publikum könne durch verschiedene Vorentscheide das Interesse an dem Format verlieren. – Eine Diskussion, die wir in Deutschland nach dem diesjährigen USFB-Format bestimmt auch wieder bekommen werden.
Doch das Gegenteil war der Fall – die Einschaltquoten und das öffentliche und mediale Interesse wuchsen seit 2002 tatsächlich noch an.

Jeweils knapp nach dem Ende eines Song Contests beginnt in Schweden die Zeit, in der neue Lieder und BewerberInnen fürs nächste Jahr gesucht werden. Prinzipiell darf jede und jeder Vorschläge einreichen und sich bewerben – eine Jury bestimmt dann die 32 Titel und InterpretInnen, die es in die vier Vorentscheide schaffen. Darunter können sich Newcomer ebenso befinden wie etablierte Stars der schwedischen Musikszene – eine Punkband kann im Vorentscheid auf einen alternden Schlagerstar stoßen Und auch frühere ESC-Teilnehmerinnen und – teilnehmer sind sich nicht zu schade, ihr Glück aufs Neue zu versuchen.
Die panische Angst, eine Künstlerin könne ihr Renommee verspielen, wie wir es in den vergangenen 20 Jahren immer wieder als Begründung dafür hörten, dass deutsche Plattenstudios ihre etablierten Stars nicht zum ESC lassen wollten, scheint hier entweder nicht zu existieren oder aber zumindest ein kleines Risiko im Vergleich zu den möglichen positiven Folgen darzustellen.

In diesem Jahr liefen seit dem 4. Februar die Vorentscheide in den Städten Växjö, Göteborg, Leksand und Malmö sowie die Zweite-Chance-Auswahl in Nyköping.
Das Finale fand am vergangenen Samstag traditionell in der Hauptstadt Stockholm statt. Und zwar im Globen, einer eindrucksvollen Veranstaltungshalle in Form einer riesigen weithin sichtbaren Kugel mit etwa 13.000 Sitzplätzen. Es versteht sich von selbst, dass wir das einmal live mit eigenen Augen ansehen wollten – so hieß es am vergangenen Wochenende für uns: ab nach Stockholm!

Der schwedische Vorentscheid für Baku

Ab dem frühen Samstagmorgen breiteten wir uns aufs Melodifestivalen vor: Die CD mit allen 32 Titeln finden wir natürlich beim Einkauf im Supermarkt in Aufstellern an den Kassen! Der Vorentscheid bestimmt die Titelseiten der Zeitungen und wir kämpfen uns durch die diversen Sonderbeilagen.
Besonders die Medien der Boulevard-Presse versuchen, sich mit allerletzten Skandälchen, Vorhersagen (diesmal lag Orakel-Ameisenbär Eskil leider daneben) oder Einschätzungen zu profilieren. Ein wenig neidisch werden wir angesichts dieses Medienechos dann doch. Ohne alles verklären zu wollen – natürlich finden auch in Schweden viele den Song Contest veraltet und überholt, auch in Schweden tobte der Kampf zwischen seiner Ausrichtung als „Schlagerfestival“ oder moderner Pop-Wettbewerb, aber Melodifestivalen ist die erfolgreichste Sendung im schwedischen Fernsehen – bei einer Einwohnerzahl von etwa 9,5 Millionen Schweden sahen das Finale am Samstag 4,1 Millionen - per Televoting gingen am Samstagabend 2.053.432 Stimmen ein - da dürfen wir schon mal etwas neidisch werden.

Als es Samstagabend dann zur Halle ging, wurde dieser Neidfaktor keinesfalls geringer. In der U-Bahn herrschte eine Stimmung, wie wir sie sonst nur von den ESC-Finals kennen: kostümierte Menschen und ausgelassene Freude. Die Organisation der Veranstaltung war perfekt, am Einlass ging es zügig, Taschenkontrolle fand gar keine statt, im Foyer der Halle konnte man sich mit alten ESC-Songs als Karaoke-Nachwuchs-Star bewerben oder einfach umherschlendern und kleine Geschenke und Proviant einsammeln. Ganz verzweifelt suchten wir nach einem Stand, der die Programmhefte zum Abend verkaufen sollte – wie dumm von uns! Hier gab es diese Programme natürlich umsonst für alle BesucherInnen an ihren Plätzen.

Die Veranstaltung ist in jedem Jahr restlos ausverkauft und selbst der schwedische Melodifestivalen-Fanclub kann seinen Mitgliedern nur das Angebot einer Verlosung der wenigen, aber begehrten Tickets machen.

Und auch ohne Einheizer, wie wir sie aus anderen Shows kennen, ist die ausverkaufte Halle ein Hexenkessel.
Von unserem Platz im oberen Rang fast schon hinter der Bühne (was den Vorteil brachte, dass wir das Ergebnis des Abends vor allen anderen wussten, da wir die Bühnenarbeiter beim Aufbau für den Siegertitel beobachten konnten) hatten wir einen perfekten Überblick und bewunderten ein äußerst freundliches und sachverständiges Publikum. Die Songs konnten mitgesungen werden und alle Künstlerinnen und Künstler bekamen reichlich Applaus.

Eine weitere Besonderheit des schwedischen Vorentscheides stellen in der Finalsendung die „Internationalen Jurys“ dar. 11 Jurys aus anderen ESC-Ländern dürfen nämlich vor dem Ende des Televotings ihre Stimme abgeben und somit ein Signal dafür senden, wie gut ein Song im Ausland ankommen könnte. Für Deutschland gab in diesem Jahr der Leiter der deutschen Delegation in Düsseldorf, Torsten Amarell von ProSieben das Votum ab.
Und das Schöne daran: wie in guten alten Eurovision-Zeiten werden diese Jury-Wertungen vollständig und in allen Einzelheiten dem Publikum präsentiert. Und gerade in diesem Teil der Show geht das Hallenpublikum mit und fiebert mit seinen Favoriten.

Überhaupt wirkte die ganze Show – was Auftritte, Moderation und Einspielfilme angeht – wie eine regionale Ausgabe des Eurovision Song Contests. Das machte es nicht langweilig, sondern vertraut.

Die Siegerin

Natürlich sollten wir noch ein paar Worte zum Ergebnis verlieren:

So wirklich ganz spannend war es gestern Abend nicht. Es gab bereits im Vorfeld eine eindeutige Favoritin. Spätestens als sie angekündigt wurde, war uns klar, dass sie das Rennen machen würde, wenn ihr nicht ein ganz schlimmer Lapsus passieren sollte – denn nach all dem durchaus guten Applaus für die vorangegangene Konkurrenz wurde sie von einem Toben in der Halle begrüßt, wie wir es zuletzt bei Lena erlebt hatten.
Böse Zungen könnten sagen, dass Kylie Minogue eine im Ausdruckstanz verhaftete und der Spirtualität verfallene Seelenverwandte gefunden hat. Als wir den Song von Loreen das erste Mal sahen, waren wir gelinde gesagt etwas irritiert, dass die Zeit des getanzten Namens und der zuckenden Bewegungen wieder auflebt, aber beim zweiten und spätestens beim dritten Mal fingen auch wir an, mit einzustimmen in die Zeilen:

Euphoria
Forever, ’till the end of time
From now on, only you and I
We’re going up-up-up-up-up-up-up
Euphoria
An everlasting piece of art
A beating love within my heart

We’re going up-up-up-up-up-up-up

We’re going up-up-up-up-up-up-up 

Loreen heißt die Siegerin in Schweden und wird ihr Land in Baku mit dem Lied Euphoria aus der Feder von Peter Boström und Thomas G:son vertreten. Songwriter G:son  ist in diesem Jahr damit zweimal beim ESC vertreten, denn auch der spanische Beitrag stammt aus seiner Feder – insgesamt 7 seiner Titel haben es bisher zum Song Contest geschafft.

Mit Euphoria ist ihm ein Titel gelungen, der die bisherigen in den Schatten stellen könnte. Das großartige Ergebnis Loreens am Samstagabend (erster Platz sowohl in der Jurywertung als auch beim Publikum, wo sie trotz insgesamt 10 Beiträgen etwa ein Drittel aller Televoting-Stimmen auf sich vereinigen konnte) ist ein Indikator dafür, dass Schweden diesmal ein großer Wurf gelingen könnte.

Der Song ist modern, charttauglich und hat als Dance-Nummer trotzdem etwas von der Grandezza einer guten Ballade. Er kommt ohne die traditionelle ESC-Rückung aus und steigert sich dennoch immer weiter in jene Euphorie, die er besingt. Natürlich geht es um Liebe und darum, wie zwei Seelen für sich in ihrem Universum einen Moment des Glücks erleben, der nie zu Ende gehen möge.

Einziger Stolperstein: wir haben den Song nun auch schon mehrmals gehört und können schwer einschätzen, ob sich der Eurythmie-Tanz und die wirre Frisur der Sängerin beim allerersten Hören positiv oder negativ auf den Gesamteindruck auswirken wird.

Loreen, mit vollem Namen Lorén Talhaoui, ist übrigens 28 Jahre alt, Schwedin mit familiären Wurzeln in Marokko, hat vor 8 Jahren das schwedische Pop-Idol gewonnen, arbeitet beim Fernsehen und hat es bereits 2011 beim Melodifestivalen versucht.

In Düsseldorf erreichte Schweden mit Eric Saade den dritten Platz – in diesem Jahr wollen die Schweden mehr!

Tragische Anekdote am Rande: Zweiter hinter Loreen wurde mit immerhin auch mehr als 22 % der Zuschauerstimmen Danny Saucedo mit Amazing – einer durchaus auch sehr eingängigen und netten Nummer. Der tragische Danny war bereits im vergangenen Jahr zweiter hinter Eric Saade geworden, obwohl er damals in der Jury-Wertung sogar die Nase vorn hatte.

Alle weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmer des vergangenen Samstags erreichten lediglich Prozentzahlen im einstelligen Bereich – für durchaus gute, aber auch recht skurrile Beiträge. Für die echten Fans unter unseren LeserInnen hier der Link zu allen Songs bzw. hier der zur ganzen Sendung.

Für uns war es in jedem Fall ein sehr unterhaltsamer und spannender Abend, der uns die Qualen hier im eigenen Land kurzzeitig vergessen ließ

Schweden – Modell für Deutschland

Natürlich sind wir uns bewusst, dass sich ein solches Erfolgsmodell wie der schwedische Vorentscheid nicht so einfach kopieren und übernehmen lässt. Und vor zwei Jahren hat uns Stefan Raab mit Lena, Jennifer Braun und Christian Durstewitz und all den anderen Casting-Teilnehmerinnen und – teilnehmern bei Unser Star für Oslo ja auch wirklich überzeugt.

Doch dann kam der – leider vom NDR mitgetragene – Alleingang Raabs mit der Titelverteidigung Lenas. Dies war für den ESC in Düsseldorf sicher völlig in Ordnung, was Lena angeht – aber zwei Chancen wurden damit vertan: man hätte den Erfolg Lenas nutzen können, um auf der damaligen Welle der Euphorie und Begeisterung auch in Deutschland etwas neues zu etablieren und eventuell auch wieder gestandene Künstlerinnen und Künstler gewinnen können – oder aber man hätte zumindest das damals erfolgreiche Unser Star für…-Format in den Herzen des Fernsehpublikums fester verankern können.

Beides ist leider nicht geschehen – stattdessen gab es ein auch schon eher langweiliges Format, mit dem ein Song für Lena und Düsseldorf gesucht wurde. Und als dann jeder auf 2012 hoffte, verkündete Stefan Raab seinen Rückzug vom ESC. Ein Rückzug, den er leider nur halbherzig zurückgenommen hat und der uns Thomas D als Jurypräsidenten bescherte.

Ein Jurypräsident, der nur sehr schwer über die diversen Folgen von Unser Star für Baku zu ertragen war und dessen Musikgeschmack leider sogar noch einen Tick eingeschränkter und spezieller ist als der Stefan Raabs.

Die Folge: 20 Casting-Talente, die sich leider alle viel zu ähnlich waren, eine selbst verliebte Jury, vor der wir uns fast nur noch in den Schlaf retten konnten und dann auch noch jenes neue Wertungssystem, das unter dem Namen „Blitztabelle“ der eigentliche Star der Show  wurde und allen Kandidatinnen und Kandidaten die Aufmerksamkeit des Publikums raubte. Dazu kamen die immer sehr ähnlichen musikalischen Arrangements der Begleit-Band The Heavy Tones und wir stehen 2012 wieder an derselben Stelle wie vor drei Jahren, als niemand so recht wusste, wie es mit dem Song Contest in Deutschland weitergehen sollte.

Skandinavien spielte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Geistesleben der Deutschen immer eine sehr romantisierte Rolle. Die Nordland-Sehnsucht, die Bewunderung fürs schwedische Folkshemmet und später den Wohlfahrtsstaat gerade aus Sicht der deutschen Sozialdemokratie, die literarische Prägung ganzer Generationen, erst durch Astrid Lindgren und später durch die so genannten „Schwedenkrimis“ – wir haben oft neidvoll auf unsere Nachbarn im Norden geschielt und versucht, ihnen nachzueifern.

Warum denn nicht auch mal beim Vorentscheid zum Eurovision Song Contest?!

Autoren: Martin Schmidtner und Marc Schulte

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Martin Schmidtner

ist Blogger für kulturelle Events.

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