Martin Doerry, stellvertretender Chefredakteur des "Spiegel", reiste durch Europa und Amerika um mit Menschen zu sprechen, die der Vernichtung durch die Nationalsozialisten entkommen konnten.
Zwei von Ihnen, Heinz Berggruen und Arno Lustiger, waren ins Willy Brandt Haus gekommen. Zur Buchpräsentation und Ausstellungseröffnung, um einen Beitrag zu leisten gegen das Vergessen der Schoah.
"Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden", sagt der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel. In diesem Sinne versicherte Joachim Gauck, der Vorsitzende des Vereins
"Gegen Vergessen - für Demokratie" im Willy Brandt Haus, dass man ein Vergessen nicht zulassen werde, auch wenn die direkte Zeugenschaft genommen sein wird. Wolfgang Thierse (SPD) bedauerte
ebenfalls, dass es bald keine direkten Zeugen mehr geben wird. Kognitive Auseinandersetzung könne persönliche Erfahrung nicht ersetzen. Thierse meint, der Holocaust "muß auch mit dem Herzen
erfahrbar gemacht werden". Die in dem Buch dokumentierten Einzelschicksale bieten dazu eine wunderbare Möglichkeit.
Vom Zufall des Überlebens
Imre Kertész, Ralph Giordano, Agnes Sasson, Saul Friedländer, um nur einige zu nennen, sprachen mit Martin Doerry. Was sie zu sagen haben interessiert, bewegt - und ist zumeist kaum fassbar.
Die Wege des Überlebens waren vielfältig - in den Konzentrationslagern der Nazis, in Verstecken untergetaucht oder im Exil im Ausland. Und "fast jeder hat seinen Zufall gehabt, der ihn überleben
ließ", sagt Ruth Klüger, die selbst mehrere Konzentrationslager überlebte. Auch die Auschwitz-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch erklärt: "das Überleben war kompletter Zufall, das muss ich Ihnen
sagen, kompletter Zufall."
Jede Geschichte ist einzigartig. Und trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten - wie die, für Nachgeborene kaum fassbaren, Schuldgefühle. Inge Deutschkron spricht vom "Schuldkomplex, dass man selbst
überlebt hat."
Weder Hass noch Rache
Ebenfalls ein durchgehender Tenor des Buches ist, so unglaublich das scheinen mag, dass die Überlebenden keine Rachegefühle haben. So formuliert Alfred Grossar, der emigrieren musste: "Der
Begriff Rache ist mir völlig fremd." Allenfalls ist etwas wie Bitterkeit zu spüren. Oder sogar, wie Lucille Eichengreen, Auschwitz-Überlebende, berichtet: "weder Hass noch Bitterkeit. Aber ich kann
nicht vergessen, nicht vergeben. Denn meine ganze Familie ist umgekommen." Arno Lustiger erklärte anlässlich der Buchpräsentation, dass ihm Kollektivhass gar nicht möglich sei. Er sprach auch von
jenen Deutschen, die im Nazi-Reich einsamen Widerstand geleistet hatten, sie "haben meine Liebe und meine Hochachtung", sagte er.
Kein Vergessen
Viele Betroffene haben lange verschwiegen, was sie während des Holocaust ertragen mussten. Arno Lustiger beispielsweise hat bis 1985 geschwiegen. Weil er nicht wusste, wie er derart
Furchtbares erzählen sollte. Hinzu kam, so Lustiger: "Ich selbst wollte es auch vergessen." Und doch berichten viele jetzt, vor Schulklassen, an Gedenktagen oder in ihren Büchern. Bei all dem
"empfinden sie die moralische Pflicht, für jene zu sprechen, die an ihrer Seite getötet wurden", erläutert Martin Doerry im Vorwort des Buches.
Die Fotografin Monika Zucht hat wunderbare Porträts der Zeitzeugen fotografiert. Sie hätte sich dabei jedes Konzept verboten, erläutert sie. Nichts sollte im Vorhinein festgelegt werden. Sie
wollte die Fotos aus der Situation heraus, zusammen mit den Menschen erarbeiten. Von jeder Person entstanden eine Großaufnahme und zwei eher szenische Bilder. Jedes Bild ist einzigartig. Jedes
Gesicht erzählt seine eigene Geschichte.
Die Ausstellung und das Buch sind ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen. Denn, auch wenn es für "die Erfahrungen des Holocaust keinen angemessenen Ausdruck gibt", wie Elie Wiesel
formuliert, "darüber zu sprechen, ist unmöglich, darüber zu schweigen, verboten".
Martin Doerry "Nirgendwo und überall zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust." Fotografien Monika Zucht, Spiegel-Bildband, Deutsche Verlagsanstalt, 2006, 264 Seiten, 39,90 Euro, ISBN
3-421-04207-1
Birgit Güll
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