Kultur

Nicht nur Freiwild

von ohne Autor · 7. August 2013

In der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nimmt das Leid der deutschen Zivilbevölkerung seit einigen Jahren zunehmend Raum ein. Manch einseitige Darstellung bleibt dabei nicht aus. Ein neues Buch, das Erlebnisberichte von Berliner Frauen versammelt, bemüht sich um einen anderen Akzent.

Jedes Jahr wenn des Endes des Zweiten Weltkriegs gedacht wird, mischt sich bei vielen Zeitzeugen zur Erinnerung an die Befreiung vom Nationalsozialismus noch etwas anderes: Manche erlebten die Eroberung Berlins durch Stalins Soldaten als Vorboten erneuter Unfreiheit, die dem Inferno aus Tod und Zerstörung während des Häuserkampfes folgte. Für etliche Frauen trat eine besondere Demütigung hinzu, die mit der Sowjetarmee über sie hereinbrach und sie bis heute nicht loslässt.

Erlebnisberichte einer Frauengeneration 

Eine dieser Betroffenen ist Vera Albrecht. Die Erfahrungen jener Zeit hat die 86-Jährige in ihrem Buch „Feindberührung“ verarbeitet. Neben mehreren Episoden aus ihrem Leben finden sich darin Erlebnisberichte weiterer Berlinerinnen ihrer Generation. Als junge Frau war Albrecht im Stadtteil Oberschöneweide jener Willkür ausgeliefert, die mancherorts als „Massenvergewaltigung“ aufgearbeitet wurde. Ausmaß und Systematik dieses Verbrechens sind bis heute umstritten.

Der Historiker Hubertus Knabe schätzt, dass nach der Eroberung Berlins mindestens 100.000 Frauen von Sowjetsoldaten vergewaltigt worden sein, viele von ihnen mehrfach. Rund 10.000 Frauen sollen bei den Übergriffen oder an den Folgen gestorben sein. Für Knabe ist dies einer von mehreren Gründen das Diktum vom „Tag der Befreiung“ in Zweifel zu ziehen. Kritiker werfen dem Leiter der Stasi-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen vor, aus antikommunistischer Motivation die Zahlen nach oben zu treiben. Auch in der breiten Öffentlichkeit schlägt das Thema seit dem Kinofilm „Anonyma“ über ein Berliner Frauenschicksal im Jahr 1945 immer wieder hohe Wellen.

Historische Gerechtigkeit

Albrecht wehrt sich trotz ihrer leidvollen Erfahrungen gegen einen verkürzten Blick auf das Verhalten der sowjetischen Besatzer. Mit ihrem Buch will sie ganz bewusst ein Gegengewicht zu den Stimmen aus Knabes Lager schaffen, wie sie sagt. Wie so viele andere Betroffene hat die Rentnerin ihren Schmerz über Jahrzehnte verdrängt. Nicht nur das Tabu zu DDR-Zeiten hielt sie davon ab, darüber zu sprechen. Nach dem Krieg galt es, sich ein Leben aufzubauen. Albrecht gründete eine Familie, stürzte sich in die Arbeit als Sprachlehrerin und Übersetzerin: ausgerechnet, möchte man meinen, für russischsprachige Literatur!

Vor einiger Zeit war der Zeitpunkt gekommen, das Schweigen zu brechen. Nicht in erster Linie, um ihre Erfahrungen zu „bewältigen“. Sondern vor allem, um der Rolle der sowjetischen Eroberer und Besatzer zu historischer Gerechtigkeit zu verhelfen, betont sie. „Vor lauter Massenvergewaltigungen ist nicht mehr zu erkennen, wer uns vom Faschismus befreit hat“, schreibt sie im Hinblick auf „Anonyma“ und Knabe. Es darf vermutet werden, dass es auch darum geht, mit all dem abzuschließen.

Wo Worte versagen

Trotz des psychologischen Ballasts, der sie Zeit ihres Lebens begleitete, entschloss sie sich, der einseitigen Darstellung aller Rotarmisten als siegestrunkene Despoten etwas entgegenzusetzen. Sie ermutigte
frühere Mitschülerinnen, ihre Geschichten vom Kriegsende aufzuschreiben. Vier von ihnen wurden ebenfalls vergewaltigt. Dieses Thema schwingt in vielen Beiträgen mit, ohne die Perspektive zu verengen. 

„Feindberührung“ liefert ein vielschichtiges, teilweise beklemmendes, aber insgesamt sehr nüchternes Bild vom Alltag mit den Soldaten aus der Sowjetunion. Nicht altbekannte Schwarz-Weiß-Schemata, sondern Zwischentöne dominieren diese Lebenszeugnisse. Neben Gewalt und Willkür geht es auch um Solidarität und Mitleid auf beiden Seiten. Albrecht trug das Material zusammen und bereitete es auf. Es sind Mosaiksteine vom Leben im Hexenkessel zwischen Hoffen und Bangen. Und Einblicke in Erfahrungen, bei denen Worte versagen.

Vera Albrecht: "Feindberührung. Die russischen Sieger in Berlin. Frauen berichten", Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2013, 140 Seiten, 12,99 Euro, ISBN 978-3-360-02156-4

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