Kultur

„Nicht jeder Schmied hat Glück“

von Birgit Güll · 31. Mai 2012

„Sozialdemokratie und Menschenbild“ heißt ein Sammelband, der als eine Antwort auf Thilo Sarrazins menschenverachtendes Buch „Deutschland schafft sich ab“ entstanden ist. „Ein unzeitgemäßes Buch, das zur rechten Zeit komme“, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel bei der Vorstellung des Bandes am Donnerstag im Berliner Willy-Brandt-Haus.

Die Historikerin Helga Grebing möchte den Namen Sarrazin nicht in den Mund nehmen. „Der Herr S.“, sagt sie, als sie von seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ spricht. „Sozialdarwinismus reinsten Wassers“ liege dessen Buch zugrunde. „Das hat nichts mit dem emanzipatorischen Menschenbild der Sozialdemokratie zu tun.“ Um das klarzustellen und vor allem um den Kern eines linken Menschenbildes zu bestimmen, hat sie gemeinsam mit dem Politologen Richard Saage und dem Juristen Klaus Faber das Buch „Sozialdemokratie und Menschenbild“ herausgegeben.

In einer Gesellschaft frei leben

Jeder ist seines Glückes Schmied. Dieses Diktum habe sich in den letzten Jahren in der kapitalistischen Industriegesellschaft immer stärker durchgesetzt, sagt Sigmar Gabriel. Doch: „Nicht jeder Schmied hat Glück und kann seine Geschicke in die eigenen Hände nehmen.“ In einer Gesellschaft, in der jeder auf freien Märkten Selbstverwirklichung betreibe, verschärften sich die sozialen Gegensätze zunehmend. Gabriel sieht Anzeichen für eine Zeitenwende: Es entwickle sich ein Bewusstsein dafür, dass Menschen Freiheit für die eigene Entwicklung brauchten und gleichzeitig Rücksicht auf andere nehmen müssten.

„Die Diskussion über ein sozialdemokratisches Menschenbild ist immer auch eine Debatte über eine Gesellschaft, in der Menschen frei leben können“, sagt Gabriel. Freiheit und freie Entfaltung für jeden sei damit gemeint. Wie groß die Sehnsucht in dieser Gesellschaft sei, nicht von der gleichen Würde aller Menschen auszugehen, habe die Debatte um Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ gezeigt. Eine „pseudowissenschaftliche Analyse“ und eine Auseinandersetzung, die die SPD verloren habe. Sie habe verloren, weil es ihr weder innerhalb noch außerhalb der Partei gelungen sei, über den Kern der Sache zu sprechen: Thilo Sarrazins Menschenbild.

Sarrazins Verbindung von Genetik und sozialer Frage

Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg habe mit Sarrazin jemand die Verbindung zwischen der genetischen und der sozialen Frage belebt. Eine Verbindung, die immer in die Katastrophe führe, so Gabriel. Dabei sei das Grundgesetz geschrieben worden, damit nach Hitler-Deutschland nie wieder ein Staat auf einer genetischen Grundlage basiere.

Helga Grebings Text in dem Sammelband setzt sich damit auseinander, wie sich der Holocaust auf das sozialdemokratische Menschenbild ausgewirkt hat. Im Willy-Brandt-Haus beschreibt sie, wie sie die Reaktionen auf Sarrazins Buch wahrgenommen hat, wie das Publikum bei Sarrazins Auftritt in der Berliner Urania gejohlt und getobt habe, wenn kritische Einwände gegen ihn vorgebracht wurden. An längst vergangene Zeiten habe sie sich erinnert gefühlt, sagt die 82-Jährige. „War diese Haltung in Deutschland nie weg oder ist sie wieder da?“ fragt sie.

Solidarisch die Welt gestalten

Der Sammelband jedenfalls will deutlich machen, dass die Sozialdemokratie in ihrer fast 150-jährigen Geschichte zu einer Gewissheit gekommen ist: „Die Bewahrung der Würde und der Freiheit des Einzelnen und eine gerechte Gesellschaft sind nicht nur möglich, sie bedingen einander“, so Richard Saage, Mitherausgeber des Buches. Sigmar Gabriel formuliert es so: „Ein sozialdemokratisches Menschenbild geht von einer Gesellschaft aus, in der Menschen ihre Geschichte selbst gestalten, wenn sie auch die Umstände nicht wählen könnten.“

Wenn jeder an sich selbst denke sei eben nicht an alle gedacht, sagt Gabriel. Es dürfe nicht nur um Wettbewerb gehen, in dem Schwache zum Ballast und zur Gefahr würden. Das sozialdemokratische Menschenbild sei eine Alternative zu dem herrschenden neoliberalen Bild des Menschen. Doch Gabriel sieht eine Gefahr: Menschen, die sich als ohnmächtige Objekte der Willkür von Wirtschaftsentscheidungen ausgesetzt fühlten, verlören den Glauben an die Gestaltungsmacht der Politik. Das sei der Grund, warum wir über unser Menschenbild und über das Zusammenleben in dieser Gesellschaft sprechen müssten, sagt Gabriel: „Die Welt ist gestaltbar, wenn wir solidarisch herangehen.“

Klaus Faber/Helga Grebing/Richard Saage (Hg.): "Sozialdemokratie und Menschenbild. Historische Dimension und aktuelle Bedeutung", Schüren Verlag, Marburg 2012, 200 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-89472-234-0

Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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