Den Ehrengast der Frankfurter Buchmesse gilt es hierzulande noch zu entdecken. Die neuseeländische Schriftstellerin Kate De Goldi gibt Lesetipps um das Land literarisch zu erkunden.
Zeitgenössische neuseeländische Literatur ist dem Waimakariri sehr ähnlich: Wie der große verzweigte Fluß, der den neuseeländischen Alpen entspringt und sich durch die Canterbury Ebene der Südinsel schlängelt, ist sie lautstark, höchst beweglich, formverändernd und immer wieder überraschend.
Hier ist eine kleine Auswahl, die unsere Schreibkultur in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen repräsentiert. James Browns jüngste Gedichtsammlung „Warm Auditorium“ offenbart die Stärken des Autors: Esprit, formale Strenge (ihn beflügelt das Schreiben unter selbstauferlegten Restriktionen), politisches Engagement, die eindringliche Darstellung der Kindheit. Seine Themen sind unterschiedlich – Musik, städtisches Leben, Kapitalismus, Fahrradfahren –, vor allem aber fasziniert ihn die Dichtung selbst.
In der neuseeländischen Kinderliteratur spielt Margaret Mahy eine große Rolle, doch ihr langjähriger Freund und Zeitgenosse Jack Lasenby ist ein ebenso faszinierender Erzähler. Seine wunderbaren Sätze passen zu seiner Fähigkeit, mit den verschiedenen Erzählformen zu spielen: Buschmannfabeln, klassische Mythen, Familiengeschichten – alle ganz großartig neu erfunden und verpflanzt nach Aotearoa – so die Maori-Bezeichnung für Neuseeland. Sein letztes, mit einem Preis ausgezeichnetes Buch „Calling the Gods“, erzählt vom Überleben einer Frau, die gegen die Verbannung durch ihr eigenes Volk kämpft, in einer Zeit und an einem Ort, die uns seltsam vertraut erscheinen.
Die Romanautorin Charlotte Randall hat über das letzte Jahrzehnt hinweg ein einzigartiges und bedeutendes Werk geschaffen. Ihre Romane sind voll Phantasie, intellektuell anspruchsvoll, strukturell ambitioniert und zugleich sprachliche Feuerwerke: Ein Roman, der sich in weiten Teilen in Dialogform durch einen eingekerkerten Erzähler entfaltet („The Curative“); eine Geschichte, die rückwärts erzählt wird („What Happen Then, Mr Bones?“); eine zeitgenössische Aufarbeitung des faustischen Pakts („Within the Kiss“). Und das kürzlich erschienene „Hokitika Town“, ein leiser und spannender Roman, erzählt aus der Sicht eines halbwissenden, engelhaften Straßenjungen während des Goldrausches in Neuseeland.
Gavin Bishop und David Elliot sind mit ihrer Kunst anderen neuseeländischen Bilderbuchkünstlern weit überlegen. Eine interessante Newcomerin ist Tina Matthews, eine hingebungsvolle Handwerkerin in einem Genre, das allzu oft kindische Texte und Wegwerf-Illustrationen hervorbringt. Ihr erster Titel „Out of the Egg“, mit exquisiten Holzschnitten, ist auch ein Tribut an die Bilderbuchpioniere des frühen 20. Jahrhunderts. Das kürzlich erschienene „Waiting for Later“ ist eine Geschichte in perfektem Tempo, die mit wenigen Worten viel sagt. Sie erzählt von der Welt eines Kindes und vom bittersüßen Kummer über die verspätete Beachtung durch Erwachsene.
Eine packende Stimme im Bereich kreativer Sachbücher ist Martin Edmond, ein Prosaautor mit den Anlagen eines Dichters, ein forschender Geist. Seine Publikationen beschäftigen sich zwar alle mit ozeanischen Themen, jedoch umfassen sie Menschen, Zeiten und Ideen, die weit darüber hinaus reichen. Der Schriftsteller J.M. Coetzee beschreibt Edmonds Reisebuch „Luca Antara: Passages in Search of Australia“ als „ein Buch für Buchliebhaber, eine elegante und faszinierende Mischung an Geschichte, Autobiografie, Reise und Romantik“. Das ist gleichzeitig auch eine treffende Beschreibung von Edmonds Lebenswerk.
Einen einzigartigen Status in der neuseeländischen Literatur hat Gregory O‘Brien. Wortgewandt wie Edmond, bewandert in der Ästhetik der Kunst, in europäischer und pazifischer Kultur, ist O‘Brien über verschiedene Literaturformen hinweg eine Art Universalgelehrter des imaginativen Schreibens und der bildenden Kunst. Er ist gleichzeitig berühmter Poet, erfolgreicher Maler, talentierter Kommunikator der Kunst und des Schreibens sowie der Produzent von einigen der wundervollsten, persönlichen und intellektuellen Betrachtungen, die unser Land bisher gesehen hat. O‘Brien lässt das Gewöhnliche mit dem Außergewöhnlichen kollidieren und bringt es zum Funkeln. In „News of the Swimmer Reaches Shore“ vermischt er die O‘Brien Familie, Jacques Cousteau, Matisse, Le Courbusier, nukleare Tests und vieles mehr, um eine in unserer Kultur einmalige Lektüre zu produzieren.
Der beste neuseeländische Roman des letzten Jahrzehnts ist aber „Gifted“ von Patrick Evans. Er beschreibt einen wichtigen Moment in der neuseeländischen Literaturgeschichte: die sechzehn Jahre, die Janet Frame damit verbrachte, „Owls Do Cry“ („Wenn Eulen schrein“, 2012 neu erschienen bei C.H. Beck) zu schreiben. Während dieser Zeit wohnte sie bei Frank Sargeson, einem der bedeutendsten neuseeländischen Schriftsteller. Ein profundes, bewegendes und oft lustiges Porträt dieser berühmten Beziehung und des Schriftstellerlebens. Eine unverzichtbare Lektüre.
Buchtipps
Janet Frame
Wenn Eulen schrein | Roman
Eine Eisenbahnarbeiter-Familie wird vom Unglück geplagt. Erstmals 1957 veröffentlicht, fragt der Roman, ob die Werte des weißen Europa in Neuseeland keine Rücksicht auf die angestammte Kultur nehmen müssen.
Übersetzt von Ruth Malchow
C. H. Beck
287 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-406-63001-9
Keri Hulme
Unter dem Tagmond | Roman
Dieses Buch, 1985 mit dem Booker Prize ausgezeichnet, ist beseelt von der Mythen- und Symbolwelt der Maori. Drei gebrochene Figuren finden eine Form des Zusammenlebens.
Übersetzt von Joachim A. Peter Frank
Fischer Verlag
656 Seiten, 9,95 Euro
ISBN 978-3-596-10173-3
Beryl Fletcher
Pixels Ahnen | Roman
Alice, die als Kind von London nach Neuseeland verschifft wurde, erzählt einer Historikerin ihre Lebensgeschichte. Zur gleichen Zeit stößt ihre Tochter auf Familiengeheimnisse, die Fragen aufwerfen.
Übersetzt von Almuth Carstens
edition fünf
360 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 978-3-942374-22-4
David Ballantyne
Sydney Bridge Upside Down | ROMAN
Eine Familientragödie und ein neuseeländischer Klassiker. 1968 ist der Roman im Original erschienen, nun liegt das Buch erstmals auf Deutsch vor.
Übersetzt von Gregor Hens
Hoffmann und Campe
334 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-455-40372-5
Katherine Mansfield
Glück und andere Erzählungen
Geschichten
Katherine Mansfield, 1888 in Wellington/Neuseeland geboren, starb im Alter von nur 34 Jahren. Ihre Kurzgeschichten machten sie bekannt, der Band „Glück“ versammelt eine Auswahl.
Übersetzt von Heide Steiner
Insel Verlag
244 Seiten, 8,99 Euro
ISBN 978-3-458-35849-7
Anthony McCarten
Englischer Harem | Roman
„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Ich heirate. Die schlechte: Er ist Perser“, erklärt die junge Heldin ihren Eltern. Eine Liebesgeschichte mit Witz und politischem Anspruch.
Übersetzt von Gabriele Kempf-Allié und Manfred Allié
592 Seiten, 11,90 Euro
ISBN 978-3-257-23940-9
Freya Klier
Gelobtes Neuseeland | Sachbuch
„Fluchten bis ans Ende der Welt“, lautet der Untertitel. Ein Buch über jüdische Exilanten, die in Neuseeland einen Zufluchtsort fanden.
Aufbau Verlag
443 Seiten, 12,99 Euro
ISBN 978-3-7466-7103-1
ist Autorin preisgekrönter Kurzgeschichten und Romane. Mit "abends um 10" (Carlsen Verlag) liegt ihr erstes ins Deutsche übersetzte Buch vor. Sie lebt in Wellington, Neuseeland.