Wer die Vorgänger Romane gelesen hat, weiß natürlich, wo Regeners neuer Roman ansetzt. "Neue Vahr Süd" ist der Auftakt der Lehmann-Trilogie und erzählt von Frank Lehmanns Kampf, um der
Bundeswehr zu entkommen. Nach unzähligen Widerständen und einigen trickreichen Ideen wird er schließlich für untauglich erklärt. Ein fingierter Selbstmordversuch war die letzte Rettung.
"Der kleine Bruder" bildet vom Aufbau der Fabel her den mittleren Teil. Gleich nach dem Desaster mit der Bundeswehr macht sich Frank Lehmann gemeinsam mit seinem Kumpel Wollie auf den Weg
nach Westberlin.
Im November 1980 ist die Stadt mit dem Mauerflair noch ein Paradies für schräge Typen. Insbesondere in Berlin-Kreuzberg entwickelt sich ein geradezu einzigartiges Biotop von Künstlern,
Hausbesetzern, dubiosen Kneipenbesuchern und Kriegsdienstverweigerern. Denn wer aus Westdeutschland nach West-Berlin kommt, braucht keinen Wehrdienst ableisten. Hierher verschlägt es den
20-jährigen Frank Lehmann. Auf der Suche nach seinen verschwundenen Bruder Manfred taucht er immer tiefer in dieses undurchsichtige Milieu ein.
Ein neues Leben
Kaum in Kreuzberg angekommen, umgibt Frank Lehmann auch schon das Chaos. In der Wohngemeinschaft seines Bruder musst er zunächst für dessen Mietschulden aufkommen. Manfred hingegen, von dem
er sich Starthilfe für sein neues Leben erhofft hat, ist verschwunden. Auch Manfreds Freunde können Frank keine hilfreiche Auskunft geben. Für Verwirrung sorgt zudem Manfreds Namensänderung:
zuhause Mannie, hier Freddie.
Also tritt Frank Lehmanns die Suche an. Die erfordert einen guten Orientierungssinn, denn West-Berlin ist für den Ex-Bremer Frank Lehmann eine äußerst chaotische Stadt, deren Zeichen er
nicht immer gleich versteht. Er trifft komische, aber liebenswerte Leute, die schnell zu seinen Freunden werden. Derbe Späße, "sinnloses" Gequatsche und schwarzer Humor sind an der Tagesordnung:
Hausbesetzer, die gar nicht wissen, dass ihrem Anführer das Haus gehört oder eine Dichterlesung, die pausenlos durch zwischen den Störern und den Vortragenden vereinbarte Zwischenrufe
unterbrochen wird.
Ankunft in Berlin-Kreuzberg
In dieser Welt mit ihrer doppelten Moral lässt Frank Lehmann sich nicht beirren. Er geht seinen Weg, nimmt die Dinge in die Hand. Frei dem Motto "Hier kann man nichts falsch machen. Hier
ist alles scheißegal" schaufelt Lehmann sich selbst frei. So ist es zumindest seine ganz persönliche Erfolgsstory.
Die Suche nach dem Bruder endet unspektakulär, aber erfolgreich. Mannie alias Freddie hat sich als Probant für eine Medikamentenreihe zur Verfügung gestellt. Zu diesem Zweck wurde er in
einem Hotel am Ku´damm einquartiert. Mit dem verdienten Geld möchte er nach New York.
Der Roman dokumentiert die ersten 48 Stunden des Frank Lehmann in West-Berlin. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass nicht viel passiert - außer Quatschen, Saufen und Monologisieren. Die
Suche nach dem kleinen Bruder bleibt Randerscheinung und löst sich fast von selbst auf. Was bleibt, ist ein "Ankunftsroman", in welchem Frank Lehmann sich seinen Platz im neuen Umfeld schafft.
Für die Lehmann-Leser sind die Beschreibungen der Figuren interessant, die in "Herr Lehmann" auch auftauchen. Jedoch scheint "Der kleine Bruder" nicht ganz so gelungen wie seine Vorgänger.
Ein lesenswerter Abschluss der Lehmann-Trilogie ist er dennoch allemal.
Sven Regener: Der kleine Bruder, Eichborn 2008, 281 Seiten, 19, 95 Euro, ISBN-13: 978-3821807447
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