„Nebel im August“: Kleiner Held gegen die NS-Euthanasie
In diesem Drama schmeckt der Tod nach Himbeere. Der Trunk wirkt wie ein zynischer Kommentar zum Begriff „Euthanasie“ – das süße und leichte Sterben –, mit dem die Nazis die Vernichtung von Psychiatriepatienten und Menschen mit Behinderung im Namen der sogenannten Erbgesundheitslehre verschleierten. Rund 200.000 Menschen fielen dem Euthanasieprogramm zwischen 1939 und 1945 zum Opfer, darunter unzählige Kinder. Ab dem Herbst 1939 wurden die Opfer an zentralen Stellen wie in der berüchtigten Heilanstalt Hadamar vergast. Das sorgte für öffentlichen Protest. Die von Berlin aus gelenkte Aktion „T4“ wurde gestoppt. Von nun an mordeten die Mitarbeiter der Pflegeeinrichtungen weitgehend in Eigenregie weiter: heimlich, still und leise. Mit tödlichen Spritzen und Nahrungsentzug.
Der mörderische Freund
Davon hat Ernst Lossa keinen blassen Schimmer, als er 1942 in einer süddeutschen Nervenklinik landet. In anderen Heimen war der 14-Jährige als renitent und diebisch, kurzum: als „asozialer Psychopath“ abgestempelt worden. In der neuen Bleibe soll der Angehörige der Minderheit der – vom NS-Regime als „Zigeuner“ bezeichneten – Jenischen eine neue Chance bekommen, verspricht deren Leiter Dr. Walter Veithausen. Der Arzt gibt sich als väterlicher Freund, spricht den Kindern gut zu, wirbelt sie jauchzend durch die Luft. Abends streicht er Namen auf einer Liste durch und die aus Hadamar abkommandierte Krankenschwester zieht mit dem leckeren Gift durch die Schlafsäle.
Gerade in ihrer Beiläufigkeit unterstreichen diese Szenen das Brutale und Gespenstische des NS-Systems. Unaufhörlich werden draußen neue Totenkreuze gesetzt. Im Kontrast dazu stehen die allgegenwärtigen leuchtenden Farben, in denen sich die Lebenskraft der als Kinderfachabteilung titulierten Verwahrungsstätte widerspiegelt. Hauptdarsteller Ivo Pietzcker kehrt Ernsts Energie und seinen kindlichen Optimismus mit ebenso reduzierter wie ausdrucksstarker Gestik und Mimik nach außen und macht gerade dadurch die Tragik seiner Figur deutlich.
Testlauf für den Holocaust
Zunächst wirkt alles geradezu idyllisch. Allerdings hasst es der völlig gesunde Ernst, nunmehr von Geisteskranken umgeben zu sein. Das stachelt seinen Widerstandsgeist an. Er tut alles, um seinem bisherigen Ruf gerecht zu werden. Doch dann beginnt er, Kindern, die längst als „unheilbar“ aufgegeben und für die Tötung vorgesehen wurden, zu helfen. Der Außenseiter wird zum Menschensammler, gibt sich den Träumen eines Heranwachsenden hin. Gleichzeitig durchschaut er das grausame Treiben um ihn herum. Eines Tages steht er selbst auf der Todesliste.
Ein Held kann vernichtet werden, aber nicht besiegt. Frei nach Hemingway wählt die mehrfach ausgezeichnete Produktion, die im vergangenen September im Kino lief und nun auf DVD erscheint, einen lebensbejahenden Blick auf eine Zeit, in der sogenanntes lebensunwertes Leben millionenfach beseitigt wurde. In vielerlei Hinsicht war der Mord an Kranken und Behinderten der Testlauf für den Holocaust. Doch im Vordergrund steht ein Licht in dieser geistigen und moralischen Finsternis: die Geschichte eines Jungen, der sich der Tötungsmaschinerie in den Weg stellt. Und das an einem Ort, wo die Menschen vergleichsweise fürsorglich behandelt werden.
Lächerliche Strafen für mordende Ärzte
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Robert Domes, der wiederum Nachforschungen zum Leben des „echten“ Ernst Lossa zur Grundlage hatte. Im September 1944 bekam er in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren die Todesspritze. Dort mordeten Ärzte und Schwestern sogar noch über das Kriegsende hinaus. Später kamen sie mit lächerlichen Strafen davon.
„Nebel im August“ ist aber nicht nur als Film über die NS-Euthanasie und als Mahnung zur Erinnerung angelegt. Regisseur Wessel will gerade Jugendliche zum Nachdenken darüber anregen, wie wir heute mit Sterbehilfe umgehen. Und über die Frage, was uns Menschen mit Behinderung wert sind. Sei es im Mutterleib oder als Heimbewohner. Daher beschäftigt sich die Handlung weniger mit den Intentionen der NS-Täter, sondern vor allem mit der Perspektive der „Aussortierten“, die es, freilich unter anderen Umständen, auch heute gibt.
INFO: „Nebel im August“ (Deutschland 2016), Regie: Kai Wessel, Drehbuch: Holger Karsten Schmidt, mit Ivo Pietzcker, Sebastian Koch, Fritzi Haberlandt, Henriette Confurius u.a., 126 Minuten, ab 12 Jahre
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