Kultur

Nah am Abgrund gebaut

von ohne Autor · 21. September 2014

Symbolträchtiger hätte Regisseur James Marsh seinen Psychothriller im vergangenen Jahr kaum platzieren können. 40 Jahre nach dem „Bloody Sunday“, als britische Fallschirmjäger im nordirischen Londonderry 13 unbewaffnete Demonstranten erschossen, lief „Shadow Dancer“ außer Konkurrenz im Wettbewerb der Berlinale.

Jener Gewaltexzess, der der katholischen Widerstandsorganisation IRA erheblichen Zulauf verschaffte, bestimmt bis heute die Erinnerung an den Nordirlandkonflikt. Der mag für viele seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 weit weg sein. Doch noch immer kommt es in Belfast und anderswo zu Ausschreitungen von London-treuen Protestanten und irisch-republikanisch gesinnten Katholiken. Kurz vor dem Beginn der Olympischen Sommerspiele 2012 verkündeten einige Splittergruppe gar die Neugründung der IRA.

shadow dancer

Angesichts dieser Hypothek aus Hass und Erinnerung erstaunt es, dass „Shadow Dancer“ vergleichsweise unpolitisch ausfällt, sofern das bei diesem Thema überhaupt möglich ist. Anders als etwa in Ken Loachs „The Wind That Shakes The Barley“ ging es Marsh nicht darum, den verschlungenen Ursprüngen und großen Linien des Blutvergießens nachzugehen.

Vielmehr konzentriert sich alles darauf, wie eine kleine Gruppe von IRA-Kämpfern, die ins Visier des britischen Geheimdienstes MI5 geraten sind, im Belfast der frühen 90er-Jahre die Endphase der Gewaltwelle im Alltag durchlebt. Das Psychologische dominiert sozusagen das Politische. Gleichwohl bleibt das große Ganze stets präsent: Im Zentrum der Handlung stehen IRA-Kämpferin Colette und MI-5-Agent Mac. Für beide Vertreter der verfeindeten Lager geht es um Leben und Tod.

Überall Verräter

Es ist eine Zeit des Übergangs. Der bewaffnete Kampf ist aussichtslos, eine politische Lösung liegt dennoch in weiter Ferne. In den Straßen eines katholischen Belfaster Vorortes gärt es aber nicht nur wegen des Hasses auf Unionisten und Briten. Seitdem Londons Sicherheitsapparat sogenannte „Supergrasses“ (deutsch: „Super-Petzer“) in den Reihen der IRA platziert hat, sind deren Kombattanten erst recht darauf bedacht, den anderen zu belauern und mit Verrätern kurzen Prozess zu machen. Wer sich nicht bewährt, macht sich verdächtig.

So ergeht es auch Colette. Nachdem sie ohne die erhoffte Wirkung eine Bombe in der Londoner U-Bahn platziert hat, landet sie in den Fängen des M15. Mac stellt sie vor die Wahl: Entweder packt sie fortan über ihre Familie aus, die eng mit den Paramilitärs verbandelt ist, oder sie verbringt die nächsten 25 Jahre im Knast. Letzteres ist für Colette unvorstellbar, zu Hause wartet ihr kleiner Sohn. So wird sie Macs Spionin. Doch als Colette urplötzlich wieder in Belfast auftaucht, schlagen ihr unter den Kampfgefährten schale Blicke entgegen. Kurz darauf misslingt ein Attentat auf einen Polizeiführer. Colette scheint geliefert zu sein. Mac, mag es noch so verrückt anmuten, wird immer mehr zu ihrem Schutzengel.

Doch auch der Ermittler bewegt sich auf schwierigem Terrain. Zunehmend wird ihm klar, dass seine Kollegen gegen ihn arbeiten. Für sie sind Colettes Zuträgerdienste, die die alleinerziehende Mutter in höchste Gefahr bringen, nur ein Ablenkungsmanöver, das beliebig beendet werden kann. In Wahrheit geht es ihnen darum, einen zweiten „Super-Petzer“ in Colettes direktem Umfeld nicht zu gefährden. Gibt es für Mac und Colette noch einen Ausweg aus dem Schlamassel?

Drahtseilakt im Ausnahmezustand


All das bietet ideale Voraussetzungen für einen atmosphärisch dichten Thriller. Als ein solcher geht „Shadow Dancer“ auch tadellos durch. Marsh lässt das Geschehen bis zum Schluss in einer bedrohlichen Schwebe, indem die wahren Ziele und Gefühle Colettes unklar bleiben. Ist sie nun eine Überlebens- oder eine Freiheitskämpferin? Oder vielleicht beides? Und wem kann sie trauen?

Und doch hat man den Eindruck, dass der Regisseur, dessen Dokumentarfilm „Man On Wire“ über einen Hochseillauf zwischen den Zwillingstürmen des World Trade Centers einen Oscar erntete, das Potenzial dieses Drahtseilakts im Ausnahmezustand weitaus mehr hätte auskosten können, wenn nicht müssen.

Dass Colettes Lage immer düsterer wird, berührt den Erzählfluss kaum. Der ist bis zum bitteren Ende von einer Trägheit, die auch durch sparsame Gewaltszenen kaum gemindert wird. Interessante dramaturgische Kniffe werden viel zu lange ausgespart. Mag sein, dass sich der Engländer Marsh dabei von einer Art dokumentarischem Anspruch treiben ließ. Nach dem Motto: Auch ein in Ungnade gefallenes IRA-Mitglied lebt nicht von morgens bis abends bei Alarmstufe Rot. Und wer vermag schon in Hochzeiten der Konspiration den anderen zu durchschauen? So bleiben viele Figuren im Ungefähren. Mit dieser dramaturgischen Monotonie, die erst im letzten Moment Fahrt aufnimmt, ist den Zuschauern allerdings kein Gefallen getan.

Was von diesem Film bleibt, ist vor allem die Leistung von Hauptdarstellerin Andrea Riseborough. Mit wenigen Gesten und Sätzen schafft sie als verhärmt-bezaubernde Colette Empathie für das Drama einer ganzen Generation. Manchmal sogar ohne doppelten Boden.


Info: Shadow Dancer (UK/Irland/Fr 2012), ein Film von James Marsh, mit Andrea Riseborough, Clive Owen, Gillian Anderson, Aidan Gillen u.a., 100 Minuten, OmU. Ab sofort im Kino

0 Kommentare
Noch keine Kommentare