Gänzlich anders als bei Goñi wird der Sachverhalt von dem ehemaligen Botschafter Heinz Schneppen in seinem Buch "Odessa und das Vierte Reich" beschrieben. Scheppen geht es darum, die Wege des
Odessa-Mythos nachzuzeichnen.
30 statt Tausende
Raunt Goñi von tausenden eingeschleusten NS-Tätern, so kommt Schneppen zu dem Ergebnis, dass sich unter den ca. 50.000 Deutschen und Österreichern, die in der Nachkriegszeit nach Argentinien
auswanderten, maximal 30 als NS-Verbrecher klassifizieren lassen. Ähnliches ist auch dem Abschlussbericht einer argentinischen Untersuchungskommission aus dem Jahre 1999 zu entnehmen. Unter den
deutschen Argentinienflüchtlingen befanden sich allerdings Gestalten wie Eichmann, Mengele und Erich Priebkte, deren Namen seinerzeit aber noch keineswegs so bekannt waren wie heute.
Auch für die von Goñi suggerierten konspirativen Kontakte der geflohenen Nazis zur argentinischen Regierung und zum Militär gibt er keinerlei Belege. Letztlich können derartige Spekulationen
leicht die Tatsache verdecken, dass es in Argentinien durchaus eine einheimische autoritäre Tradition gab und diese keineswegs erst von außen importiert werden musste.
Schneppen zufolge war die Einwanderungspolitik Peróns schließlich weitaus weniger ideologisch als pragmatisch motiviert; dabei unterschlägt er allerdings die bereits Ende der 1930er Jahre
erlassenen antisemitischen Einreiserestriktionen des Landes, auf die Goñi zu Recht hinweist.
Nichtsdestotrotz überzeugt Schneppen pragmatische Schilderung des argentinischen Interesses an den deutschen Einwanderern: Das Land brauchte gut ausgebildete Arbeitskräfte, wobei man sich für
mögliche Verstrickungen der Neueinwanderer in Kriegsverbrechen schlicht nicht interessierte.
Kroatische Kriegsverbrecher in Argentinien
Dies gilt umso mehr noch für die zahlenmäßig weitaus größere Gruppe an Flüchtlingen aus anderen europäischen Ländern. So weist Schneppen darauf hin, dass eine erhebliche Anzahl an
Kollaborateuren und Anhängern faschistischer Regime aus ganz Europa aus Furcht vor Rache nach Südamerika flüchtete.
Hierunter befanden sich so prominente Figuren wie der Anführer der kroatischen Ustascha-Faschisten, Ante Pavelic, während dessen Regime hunderttausende Serben, Juden und Roma ermordet wurden
(hier leistet sich Schneppen allerdings einen groben Schnitzer, wenn er die Opfer des Ustascha-Regimes als "Serben, Orthodoxe und Muslime" bezeichnet).
Mit Pavelic konnte sich nahezu die gesamte Ustascha-Führungsriege nach Argentinien absetzen, wo sie sich als "Exilregierung" versuchte, neu zu konstituieren.
Auch die Kirche scheint bei der Fluchthilfe der katholischen Kroaten eine erheblich größere Rolle gespielt zu haben, als bei der der Deutschen. Zwar gab es Figuren wie den berüchtigten
österreichischen Bischof Hulda, der von Rom aus deutschen und - vor allem - österreichischen Nationalsozialisten bei der Flucht aus Europa half. Schneppen weist aber Mutmaßungen zurück, dieser sei
"Vertrauensmann" des Papstes gewesen und habe aus nazistischer Überzeugung heraus gehandelt.
Wege des Mythos
Wie aber entstand der Mythos von "Odessa" als Organisation von Altnazis oder, in Goñis Variante, als weit verzweigtes Netz konspirativer Kräfte? Dies ist die zentrale Frage bei Schneppen.
Dabei kann er die Entstehung und Tradierung zentraler Elemente des Odessa-Mythos aufzeigen: Da ist von gefälschten oder missverständlich zitierten Dokumenten, der Verwandlung von
nachrichtendienstlichen Spekulationen in scheinbar bewiesene Tatsachen und von bewussten politischen Unterstellungen die Rede.
Es braucht schließlich keine konspirative Einbildungskraft, um sich das Interesse der Stasi an "Odessa" zu erklären. Hier bediente man sich dann des altbewährten Mittels der
Dokumentenfälschung, um die Mär von der antikommunistischen katholisch-nazistischen Verschwörung zu "belegen".
Allerdings hätte man sich am Schluss gewünscht, etwas mehr darüber zu erfahren, warum sich der Odessa-Mythos so lange halten konnte. Stattdessen verliert sich Schneppen in wenig
aussagekräftigen Allgemeinplätzen über die Funktion von Verschwörungsmythen in der säkularen Gesellschaft. Dennoch handelt es sich um ein sehr lesenswertes Buch: Keine sensationelle
Enthüllungsstory, aber eine akribische historische Detektivarbeit. Spannend ist dies allemal.
Felix Wiedemann
Uki Goñi, Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher, Assoziation A-Verlag, Berlin/ Hamburg 2006, 400 S., 22 €.
Heinz Schneppen, Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte, Metropol-Verlag, Berlin 2007, 279 S., 19 €.
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