Kultur

„Murer “: Die Wahrheit war sein letztes Opfer

Die NS-Prozesse der Nachkriegsjahre waren auch ein Spiegelbild der geistig-moralischen Verhältnisse. Das macht ein Gerichtsdrama über den „Schlächter von Vilnius“ auf bedrückende Weise deutlich.
von Nils Michaelis · 23. November 2018
Biedermeier und Sadist: Franz Murer vor Gericht.
Biedermeier und Sadist: Franz Murer vor Gericht.

„Hier hätten sie auch Eichmann freigesprochen.“ Das dem Nazi-Jäger Simon Wiesenthal gegen Ende in den Mund gelegte Zitat sagt alles über Christian Froschs neuem Film. Die in eine kaltschnäuzige Pointe verpackte Wahrheit mag man am Anfang erahnen, wenngleich man sie nicht wahrhaben möchte: Dass der Ex-NS-Funktionär Franz Murer um jeden Preis ohne Verurteilung davonkommen soll, weil es von einflussreichen Kreisen so gewollt wird.

Die Geschichte der Täter des Holocaust ist auch eine Geschichte von Verwandlungen, die mitunter ziemlich nahtlos verliefen. So wie bei Murer, der als „Schlächter von Vilnius“ in die Geschichte eingegangen ist. Wenn sich der Österreicher im weißen Fiaker auf Patrouille begab, gerieten die Juden im Ghetto von Wilna in Todesangst. Der für „jüdische Angelegenheiten“ zuständige Stellvertreter des Gebietskommissars war für seinen Sadismus bekannt. Er hatte entscheidenden Anteil, dass von einst gut 80.000 jüdischen Bewohnern im „Jerusalem des Ostens“ nur etwa 600 den Zweiten Weltkrieg überlebten.

Prozess auf Umwegen

In der Sowjetunion wurde der einst in der SS-Ordensburg Krössinsee auf Linie gebrachte Murer zu 25 Jahren Haft verurteilt, im Zuge des Staatsvertrags mit Österreich aber schon nach fünf Jahren in die Alpenrepublik entlassen. Dort brachte er es als Landwirt und konservativer Kommunalpolitiker zu Ansehen. Erst auf Betreiben Wiesenthals reagierte die Justiz und strengte 1963 den Prozess in Graz an.

Frosch griff diesen Fall für sein Gerichtsdrama auf, weil er symptomatisch für eine lange Phase von Österreichs Umgang mit der NS-Zeit ist: die Vergangenheit ruhen zu lassen und jeden, der sie wieder ausgräbt, zu diskreditieren. Murers Freispruch trotz seiner ungeheuren Schuld, die brutalstmögliche Einmischung von Spitzenpolitikern und die offen antisemitische Kampagne gegen Belastungszeugen summierten sich zu einem immensen Skandal, wenngleich weite Teile der öffentlichen Meinung in den Beschuldigungen des Heimkehrers durch die Überlebenden des Holocaust den eigentlichen Skandal sahen.

Im Mittelpunkt der Handlung stehen jene zehn Tage im Sommer 1963. Murer gibt im grünen Janker den anständigen steirischen Bauerssohn, der in Litauen nur seine Pflicht getan habe und von den von ihm zu verantwortenden Mordaktionen erst nach 1945 erfahren haben will. Sein Verteidiger ist damit beschäftigt, die unter großer psychischer Belastung geleisteten Aussagen der aus dem Ausland angereisten Zeugen ebenso arrogant wie verletzend zu zerpflücken. Auch die Perspektive des engagierten, aber letztlich von der Regierung ausgebremsten Staatsanwalts, kommt zum Zug.

Langlebige Erfahrungen

Weitere Handlungsstränge gelten den Zeugen und Journalisten, die jeder auf ihre Weise mit dem, was verhandelt wird, in Beziehung stehen. Der Rahmen des intensiven Kammerspiels wird immer wieder erweitert und mit Thrillerelementen gespickt. Wir bekommen eine Ahnung davon, wie die Ghetto-Erfahrungen bei denen, die sie durchlitten, noch nach Jahren präsent waren. Und welche finsteren Kräfte die Verhandlung in Österreich mobilisiert hat.

Für Frosch haben jene zehn Tage gar jenen geistigen Boden bereitet, der die spätere Affäre um den NS-belasteten Bundespräsidenten Kurt Waldheim und den Marsch der Rechtspopulisten durch alle Institutionen ermöglichte. Durch die Vielzahl an Perspektiven veranschaulicht der Regisseur und Drehbuchautor diese Verästelung, ohne zu didaktisch oder moralisierend vorzugehen. So gesehen erzählt „Der Fall Murer“ zwar ein dunkles Kapitel der Nachkriegszeit, jedoch mit der Absicht, Strukturen freizulegen, die bis heute fortwirken. Murer selbst wird dabei fast zur Randfigur, die dem Geschehen ungläubig folgt.

Insofern geht es mehr um das Gegenwärtige des Vergangenen als um eine bloße historische Rekonstruktion. Der auf Gerichtsprotokollen beruhende Film verbindet diese Absicht mit einer packenden Dramaturgie inklusive überraschender Wendungen, die jede der immerhin 137 Minuten lohnenswert machen. Die etlichen Nahaufnahmen der Gesichter von Angeklagtem, Verteidigern, Geschworenen und sonstigen Prozessbeteiligten unterstreichen die Bedeutung sämtlicher Auftretender bis hin zum letzten Komparsen. Der erzählerische Sog ergibt sich auch durch das Spiel mit langen Einstellungen und Unschärfen. Als säße man selbst mit im Gerichtssaal. Dieser wird, anders als in vielen anderen Gerichtsdramen, weniger zum Ort der Wahrheit, sondern der Manipulation. Eben zu einer ganz eigenen Wahrheit.

„Murer – Anatomie eines Prozesses“ (Österreich 2018), ein Film von Christian Frosch, Kamera: Frank Amann, mit Karl Fischer, Alexander E. Fennon, Karl Markovics, Melita Jerisic u.a., 137 Minuten

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