Kultur

„Much Loved“: Ein Blick hinter den Schleier der Sexarbeit

Verschmäht und begehrt in Marokko: In „Much Loved“ nehmen sich vier Prostituierte, was sie brauchen. Für die Hauptdarstellerin hat der Film ein bitteres Nachspiel.
von ohne Autor · 15. April 2016
Szene aus dem Film „Much loved“
Szene aus dem Film „Much loved“

Marokko, das Paradies für Touristen: Regisseur Nabil Ayouchs zeigt uns eine ganz besondere Spezies: Männer, die vor allem wegen der marokkanischen Frauen ins weltoffene Marrakesch reisen. Und das natürlich heimlich. Nach außen hin wird die sittenstrenge Fassade gewahrt, doch in den mondänen Villen lassen es die Besucher aus Saudi-Arabien und wer weiß noch woher mit Prostituierten und Alkohol nach allen Regeln der Kunst krachen.

Much Loved - verachteter Teil der „Wertschöpfungskette“

„Much Loved“ erzählt davon, wie die Sexarbeiterinnen einerseits ausgebeutet und gedemütigt werden, andererseits aber auch einen wichtigen Teil der Wertschöpfungskette bilden – und trotzdem, oder gerade deswegen, vom Mainstream und von den eigenen Familien verachtet werden.

Keine Frage: Wieder einmal wird deutlich, wie sich gerade im Umgang mit Sexualität die Widersprüche einer Gesellschaft offenbaren. Nicht nur, aber eben auch in Marokko. Das Königreich gilt als Hort eines moderaten Islam und kämpft dennoch mit einem gefährlichen Cocktail aus massiven sozialen Problemen und dem Rückzug vieler in den Konservatismus. So viel zum Kontext, den „Much Loved“ teils subtil, teils drastisch, aber stets stimmig einfließen lässt.

Selbstbewusstsein durch Ausbeutung

Dem marokkanisch-französischen Regisseur lag allerdings nicht daran, die Zustände in seinem Land anzuprangern. Der Film ist erfüllt von der Lebensgier und von den Träumen der Protagonistinnen: Noha, Randa, Soukaina und Hlima ziehen Nacht für Nacht durch Marrakesch und verkaufen ihren Körper. Ihr Chef ist allerdings kein finsterer Zuhälter, sondern Noha (Loubna Abidar), die älteste und erfahrenste der vier: Sie mahnt die anderen zur Disziplin, gibt ihnen aber auch Zuwendung. Eines von vielen Beispielen dafür, dass in diesem intensiven Drama vieles nicht so ist, wie es zunächst scheint.

Die Geschichte vermeidet viele Klischees und überrascht mit unerwarteten Rollenkonstellationen. Dazu gehört auch, dass ein älterer Vertrauter die Frauen von der gemeinsamen Wohnung zu ihren Einsätzen bringt. Zu fünft bilden sie eine Familienstruktur, die zumindest den Sexarbeiterinnen darüber hinaus längst abhanden gekommen ist. Mit Witz und Zuwendung geben sie einander Halt, wenn sie nach stundenlangen Sex- und Partyorgien halbtot ins Bett fallen – oder sich darauf vorbereiten. Auch wenn es paradox klingt: Dass die Frauen sich ausbeuten lassen und damit zum Teil auch ihre Familien, die ihr Tun für schändlich halten, durchfüttern, macht sie selbstbewusst. Schließlich, so scheint es, bringt sie der Job ihren eigenen Sehnsüchten ein Stück näher. Extreme Widersprüche formen eben eine ganz besondere Form von Pragmatismus. Dieser kommt vor allem dann zu besonderer Blüte, wenn die WG-Bewohnerinnen über ihre Freier und Männer an sich herziehen. Fast könnte man sich fragen, wer hier eigentlich wen ausnutzt.

Prostituierte in Marokko: Zwischen Göttin und Sklavin

Die Offenheit, mit der wir Zeuge der nächtlichen Einsätze werden, verblüfft immer wieder. Mal huldigen die zahlungskräftigen Gastgeber den Protagonistinnen wie Göttinnen, dann wieder müssen sie kriechen: Keine Situation ist vorhersehbar. Orientierungslos folgt man den einzelnen Szenen, die von der Handkamera sowohl drastisch als auch elegant, aber immer im Sinne einer stimmungsvollen Erzählung eingefangen werden. In dieser ästhetischen Offenheit drückt sich die widersprüchliche und undurchsichtige Situation von Noha und den anderen aus. Mögen sie sich auch noch so stark fühlen: In einigen besonders schonungslosen Szenen werden ihnen brutalstmöglich die wahren Machtverhältnisse vor Augen geführt. Doch anstatt das Ganze dadurch ins Düstere kippen zu lassen, öffnet sich immer wieder ein Türchen in Richtung Optimismus und Komik.

Geil und zugedröhnt im Reich der Scheinmoral: Groß war der Aufruhr in Marokko, nachdem „Much Loved“  im vergangenen Jahr in Cannes gelaufen war. Prompt verhängte die Zensurbehörde ein Aufführungsverbot, obwohl sie den Film noch gar nicht gesichtet hatte. Besonders arg erwischte es Hauptdarstellerin Loubda Animar: Sie wurde bedroht und in Casablanca auf offener Straße zusammengeschlagen. Polizisten und Ärzte lachten sie aus. Jetzt lebt sie in Frankreich. Ayouch berichtet aber auch davon, wie ihn die Marokkaner in dieser Auseinandersetzung unterstützt haben.

Die Realität ist brisant genug

Bei all der, vom eindringlichen Realismus eingefangenen, Brisanz, die sich mit „Much Loved“ verbindet, bleiben letztendlich aber vor allem die starken Figuren haften. Dadurch überrascht einen der Film ein weiteres Mal. Die engagierte, aber unaufgeregte Erzählhaltung dürfte auch eine Frage der Erfahrung sein: Schon mehrfach hat sich der 1969 geborene Regisseur mit den Themen Sex und Prostitution befasst, etwa in „Les Chevaux de Dieu“, seinem Beitrag für Cannes im Jahr 2012. Sein siebenter Spielfilm will, wie Ayouch selbst sagt, nicht moralisieren oder verurteilen, sondern eine Realität fernab von Mythen zeigen. Und das ist brisant genug.

Info:

Much Loved (Marokko/Frankreich 2015), ein Film von Nabil Ayouch, mit Loubna Abidar, Asmaa Lazrak, Halima Karaouane u.a., 103 Minuten

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