Kultur

„Motherland“: Wie Soldaten in Belarus systematisch gefoltert werden

Dieser Dokumentarfilm ist eine Sensation. „Motherland“ gewährt seltene Einblicke in die zunehmend abgeschottete Gesellschaft in Belarus, versprüht aber auch ein wenig Hoffnung.
von ohne Autor · 1. September 2023
Wehrpflichtige werden in der Armee von Belarus systematisch erniedrigt.
Wehrpflichtige werden in der Armee von Belarus systematisch erniedrigt.

In der kleinen Stadt in Belarus herrscht Volksfeststimmung. Heute werden Wehrpflichtige in die Armee aufgenommen. Angehörige und Freund*innen versammeln sich vor der Kaserne und beobachten, wie ihre Lieben den Eid ablegen. „Wir sind treue Freunde und werden erwachsen, um in einer hart arbeitenden, unabhängigen Familie zu leben“, singen die ausschließlich männlichen Rekruten. Es ist blanker Hohn. Unzähligen von ihnen steht blanker Terror bevor. In vielen Gesichtern sind Angst und Zweifel zu sehen.

Drangsaliert und erniedrigt bis zum Tod

Svetlanas Sohn hat diesen Terror bereits hinter sich. Vor wenigen Tagen wurde er begraben. Er ist ein weiteres Opfer der „Dedowschtschina“, was sich mit „Herrschaft der Großväter“ übersetzen lässt: Dienstältere Soldaten drangsalieren und erniedrigen den militärischen Nachwuchs, bis hin zu schwerer Misshandlung und Folter. Ungezählte Wehrpflichtige kamen durch diese seit Generationen kultivierten Grausamkeiten ums Leben, nicht wenige wählten den Freitod. Trauriger Alltag in Belarus, Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Und auch das Spiegelbild einer Gesellschaft, die verlangt, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten.

„Motherland“ schildert diese brutale Welt aus mehreren Perspektiven. Im Zentrum stehen zwei Menschen, die auf verschiedene Weise mit dem System der Gewalt in Berührung gekommen sind. Svetlana, die trauernde und auch entschlossene Mutter, will sich mit dem Tod ihres Sohnes und anderer Leidensgenossen nicht abfinden. Sie reist durchs Land, um andere Eltern für ein Vorhaben zu gewinnen, das in Alexander Lukaschenkos Diktatur geradezu aberwitzig erscheint: eine Sammelklage gegen die Militärs, die gewaltsame Todesfälle hinter Kasernenmauern zu vertuschen versuchen.

Ohne Illusionen

Ein zweiter Strang rankt sich um Nikita. Wir erleben ihn kurz vor der Ablegung des Eides und später auf Wochenendbesuchen. Sein Großvater gibt ihm mit auf den Weg, dass es gut sei, sich in der Armee als Mensch „formen“ zu lassen. Kurz darauf zeigt er ihm, wie man ein Steak weichklopft – eine symbolträchtige Szene, allerdings nicht frei von Illusionslosigkeit auf beiden Seiten.

Diese zieht sich durch den ganzen Film. Nikitas Clique treibt sie auf die Spitze. Viele denken daran, sich dem Wehrdienst zu entziehen – vor dem Hintergrund der russischen Invasion in der Ukraine und des Stromes geflüchteter Wehrpflichtiger aus dem „Bruderland“ Russland macht allein dieser Aspekt den Film höchst aktuell. Für den kritischen Geist Nikita ist die größte Angst, bei den einsetzenden Massenprotesten gegen das Regime im Sommer 2020 auf seine Freund*innen schießen zu müssen.

Eine Klammer zwischen beiden Pfaden der Erzählung bilden Zitate aus Soldatenbriefen. Sie ermöglichen das, was der Kamera verwehrt blieb: der Blick ins finstere Herz des Kasernenlebens. Erschütternd ist aber auch das Bildmaterial. Trotz oder gerade wegen seiner strengen, aber nicht unsensiblen dokumentarischen Kraft bietet es reichlich Symbolik, gerade im Hinblick auf Svetlanas Bürde. Selbst ein sich nicht entzünden wollendes Grablicht und ein Priester, der dem Grab des Sohnes den Segen verweigert, machen ihr das Leben schwer. Ausgiebige statische Aufnahmen von urbaner Ödnis illustrieren die Beschreibungen der Akteur*innen über eine erstarrte, abweisende Gesellschaft.

Intensive Einblicke

Der Film des ukrainisch-belarussischen Filmemachers Alexander Mihalkovich und seiner belarussischen Kollegin Hanna Badziaka ist in mehrerer Hinsicht eine Sensation. Er ermöglicht Einblicke in eine zunehmend abgeschottete, durch Geheimdienst und Propaganda deformierte Gesellschaft, deren Führung treu an der Seite der Imperialist*innen im Kreml steht.

Zugleich macht dieser wegen der wabernden Soundeffekte auch akustisch bedrückende Film Hoffnung. Weil deutlich wird, dass es in Lukaschenkos Reich noch immer Freiräume und mutige Menschen gibt. Svetlana und all die anderen Mütter, aber auch Nikita und seine Freund*innen stehen für ein anderes Belarus, für eine Welt jenseits jeglicher Uniformität.

Ein bisschen Hoffnung

Jede Szene aus der nonkonformen Elektro-Subkultur von Minsk versprüht diese Hoffnung. Sie bleibt selbst dann präsent, wenn wir aus ungewohnter Perspektive die Niederschlagung der Proteste nach Lukaschenkos Wahlbetrug verfolgen. Erneut tritt uns der Mechanismus von Angst und Gewalt vor Augen. Hier schließt sich der Kreis dieser mitunter lakonischen, aber durchweg atmosphärisch dichten Bilderreise.

Info: Motherland (Schweden, Ukraine, Norwegen 2023), ein Film von Alexander Mihalkovich und Hanna Badziaka, 92 Minuten, OmU. Im Kino

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