Kultur

Mittelalter trifft Türkei

von Selda Göktas · 14. Dezember 2008
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Die 15-Jährige Meryem wird von Ihrem Onkel, dem Scheich, vergewaltigt. Da es in der türkischen Gesellschaft weit verbreitet ist, die Frau als Sünderin per se zu betrachten, beschließt ihre Verwandtschaft, das Mädchen aus dem ostanatolischen Dorf Suluca in Van nach Istanbul zu verbannen und sie dort ermorden zu lassen. In der relativen Anonymität der Großstadt, so meinten sie , falle der Mord an einem armen, ostanatolischen Mädchen nicht auf. Diesen "heiligen" Auftrag sollte der gerade aus dem Krieg gegen die PKK zurückgekehrte Cemal ausführen.


Der Bruderkonflikt: Türken und Kurden

Cemal akzeptiert den Auftrag teilnahmslos. Ein unnahbarer Fels ist er geworden, seit er in den Bergen immer wieder auf PKK-Kämpfer traf. Im ständigen Kampf auf Leben und Tod war er nur ein einziges Mal froh, einen PKK-ler nicht getötet zu haben: Memo, den Anführer einer Gruppe PKK-ler. Er ist ein ehemaliger Schulkamerad aus dem Dorf. Sie hatten sich früher als Kinder nur aus Spaß gerauft. Und jetzt? Was soll sich wirklich geändert haben? Wem nutzt dieser Bruderkonflikt?


Das, was bleibt
Als Meryem mit verbundenen Augen am Abgrund eines Istanbuler Vororts zum Sterben bereit steht, erinnert sie sich noch einmal an alle guten Menschen. Das allerdings verstärkt ihre Todesangst nur. "Warum liebt Gott mich nicht?", fragt sie sich. Als sie jedoch an ihre kaltherzige Tante denkt, kommt Wut in ihr auf. Die Tante hielt sie für verhext. Cemal bemerkt derweilen ihre Schweißperlen am Nacken. Plötzlich wird ihm bewusst, dass Meryem nicht nur "Sünderin", sondern Mensch ist. Er nimmt Abstand vom Mordversuch -fühlt sich hilflos und klein. Meryem beugt sich mit Güte zu ihm und sagt in alltäglichem Ton: "Komm Cemal, lass uns gehen."
Doch lässt sich nach einem solchen Vorfall unbekümmert weiterleben? Meryem kann es, denn sie besitzt die Gabe, alles Unangenehme mit einem Schlag zu vergessen. Die Hoffnung ist grün, so grün wie ihre wunderschönen Augen.


Die Begegnungen, die prägen
An der Ägäis stoßen Meryem und Cemal auf den desillusionierten Professor Irfan aus Istanbul. Er ist weder national, religiös noch ideologisch gebunden. Nichts hat für ihn einen bleibenden Wert. Seit langem fühlt er sich nicht mehr wohl in seiner Haut. Seine Luxuswohnung empfindet er als einen "Sarg". Das Leben kennt er vor allem aus Büchern - Irfan ist kein Mann der Tat. Meryems kindische, unschuldige Art reinigt Irfans Seele. Der einst scharfzüngig-sarkastische Professor wird wundersam-mild. Er verliert auch seine panische Todesangst und akzeptiert nun sein Leben mit der vollen Kenntnis der Endlichkeit.
Ein Ex-Botschafter, dem die drei begegnen, unterteilt das Leben in drei Stufen. Im Laufe des Lebens seien die meisten Menschen wie Kamele. Sie müssen Ballast mit sich tragen. Zur nächst höheren Stufe kämen nur solche mit Löwenherzen: Kämpfer gegen jegliche Widrigkeiten. Die höchste Stufe sei jedoch jenen vorbehalten, welche die verlorengegangene Unbefangenheit wiederfinden. Am Ende wieder zum Kind zu werden, zeichne einen Wissenden aus. Mit Hilfe des Professors wird Meryem zur Löwin. Sie sagt zu Cemal: "Du kannst mich nicht mehr aufhalten." Nun ist sie sich sicher, dass Gott endlich auch sie liebt.


Türkei im Aufbruch?
Doch bis aus der Türkei ein Land voller "Wissender" geworden sein wird, ist der Weg noch lang. Lässt sich etwa eine türkische Frau von ihrem Ehemann scheiden, wird sie oft von nahesten Angehörigen diskriminiert. Insbesondere die verheirateten Frauen meiden den Kontakt, weil sie befürchten, sie könne ihre Männer verführen. Denn sehr viele türkische Frauen denken, eine Frau könne nicht ohne Mann leben. Alleinstehende werden als "sahipsiz" (auf deutsch: Unbesessene) wahrgenommen. Folglich heiraten diese mehr aus Not denn aus Liebe wieder. So ist man "ungefährlicher" für die weibliche Verwandtschaft.
Dass in einer Beziehung außer Liebe auch Unabhängigkeit und Selbstwert beansprucht werden müssen, damit es eine gesunde bleibt, ist vielen Türkinnen absolut fremd. So nimmt die Abhängigkeit kein Ende. Und da, Macht ungleich verteilt ist, wird sie automatisch missbraucht.
Der Schriftsteller Vaclav Havel sagte einmal: "Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht." Intellektuelle und Künstler wie Zülfü Livaneli, Orhan Pamuk und Fazil Say besitzen diese Gewissheit.

Zülfü Livaneli, Glückseligkeit, Klett-Cotta 2008, 331 Seiten, 22, 90 Euro, ISBN 978-3-608-93792-3

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