Kultur

Mit der Kraft der Phantasie

von Die Redaktion · 21. August 2008
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"Am falschen Ort und bei den falschen Leuten: Kollegium Attweg." Seine Phantasie ist in der erzkatholischen Erziehungsanstalt Attweg Paul Silbersteins einzige Fluchtmöglichkeit. Das reale Entkommen aus dem verhassten Internat scheitert an der übermächtigen Vaterfigur. Doppelte Böden Eine eineinhalbstündige Vision lässt den reichlich selbstbewussten Spross einer Wiener Großindustriellen-Dynastie 1958 "bis zum Weltkern" blicken. Von da an, ist er entschlossen, sich zu seiner "Merkwürdigkeit zu bekennen und endlich ganz die Verantwortung für dieses Kind zu übernehmen, das ich war und das mir anvertraut war." Die äußeren Umstände sorgen dafür, dass sich der große Wunsch aus Attweg herauszukommen erfüllt: Der despotische Vater stirbt. Mit dem Tod des Tyrannen Roman Silberstein kann die Erinnerung einsetzen, und vor allem können die "doppelten Böden seiner Biographie" freigelegt werden. Denn die Auseinandersetzung mit der schillernde Figur des Vaters steht im Zentrum von André Hellers Erzählung. Trostlose Glaubensbekenntnisse Opiumabhängig war der Süßwarenfabrikant Roman Silberstein nach dem Zweiten Weltkrieg nach Wien zurückgekehrt. 1938 hatte der zum Katholizismus konvertierte Jude seine Heimatstadt verlassen müssen. Verbitterung brachte er aus der Zeit im Pariser und später im Londoner Exil mit. "Der Erste Weltkrieg hat mir die Naivität ausgetrieben, der Zweite die Zuneigung", lautet eines seiner "trostlosen Glaubensbekenntnisse". Die Menschheit bestand für Roman Silberstein ausschließlich aus Gegnern. Mit demselben unerbittlichen Sadismus, mit dem er im Nachkriegs-Österreich "sehr persönliche Rachefeldzüge gegen Nazis" führt, behandelte er seine Familie. Und diese fügte sich, um den berüchtigten "Zornesgewittern" zu entgehen. So saß sie beispielsweise jeden 1. Mai in abgedunkelten Räumen, um bei lauter Grammophonmusik dem "Proletenhurrikan" auf Wiens Straßen zu entgehen. Lebendige Phantasie An die Katholische Kirche, von der der tote Despot mit seiner Konvertierung Schutz erhofft hatte, glauben weder sein Sohn, noch seine drei Brüder, die zum Begräbnis angereist kommen. "So einer wie Sie", wettert der New Yorker Onkel einen Dominikanerpater an "wünscht womöglich auch, dass die wenigen Juden, die unter heftigem Wegschauen der katholischen Kirche Auschwitz, Treblinka oder Mauthausen überlebt haben, sich heutzutage zurückhaltend und duckmäuserisch verhalten." Mit dem Tod des tyrannischen Vaters ist Paul Silberstein frei ein eigenes Leben zu beginnen. Geprägt von seiner Familiengeschichte, aber mit der ganzen Kraft seiner lebendigen Phantasie ist er am Ende der Erzählung bereit, "so viel wie möglich Welt zu erfahren". André Heller, der Sohn des 1958 verstorbenen Süßwarenfabrikanten Stephan Heller, erzählt in "Wie ich lernte bei mir selbst Kind zu sein" vom Erwachsenwerden. Tragisch, komisch und bisweilen skurril berichtet er von einer überlebensgroßen Vaterfigur, von einem großen Befreiungsschlag und von persönlichen Glaubensbekenntnissen. Denn: "Geboren wird man als Entwurf zu einem Menschen, und dann muss man Zeit seines Lebens aus sich einen wirklichen Menschen machen", heißt es im Buch. Birgit Güll André Heller: "Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein". Eine Erzählung. 2008, S. Fischer, 16,90 Euro, ISBN 978-3-10-030209-0

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