Kultur

Mehrere Leben

von Dagmar Günther · 8. Oktober 2007

Ursula Kuzcynski wurde 1907 geboren. Sie wuchs in einer progressiven, weltoffenen Familie am Schlachtensee in der Nähe des Berliner Grunewalds auf. Schon bald engagierte sie sich im Kommunistischen Jugendverband, gründete und leitete die "Marxistische Arbeiterbibliothek", schrieb für die "Rote Fahne" und die "Welt am Abend". Mit ihrem Ehemann, dem Architekten Rudolf Hamburger ging sie 1930 nach Shanghai. Dort lernte sie den Kundschafter Richard Sorge kennen und trat in den Dienst der Roten Armee. Sie lebte und arbeitete in China, der Mandschurei, Russland, Polen, der Schweiz, in England und ließ sich später in Ostdeutschland nieder. Sie hatte drei Kinder von drei Männern, war zweimal verheiratet. Zum Schluss mit dem Spanienkämpfer und Kundschafter, dem englischen Fotografen Len Beurton.

Niemand wusste von ihrem zweiten Leben als Spionin. Nach 20 Jahren beendete sie 1950 auf eignen Wunsch ihre Tätigkeit für den sowjetischen Geheimdienst. Als freischaffende Schriftstellerin startete sie ins dritte Leben. Erst als 1977 "Sonjas Rapport" erschien, kam ihr aufregendes Schicksal ans Tageslicht und beeindruckte.



Die Wahrheit


"Jeder Autor hat beim Aufschreiben seiner Erinnerungen Schwierigkeiten: Auswählen, Komprimieren und die Wahrheit sagen." Das war, so Ursula Kuzcynski, alias Ruth Werner, der Weg, den sie mit "gutem Gewissen" gegangen sei. Ihrem Gewissen und der Wahrheit bleib sie einen Leben lang verpflichtet, auch als sie im November 1989 nach dem Fall der Mauer im Berliner Lustgarten vor Zehntausenden von ihrem Vertrauen in einen menschlichen Sozialismus sprach. Sie starb im Jahr 2000.

Von 1930 bis 1950 hat sie nach Moskau gefunkt, nun gehen Funksprüche an sie. Verfasst von ihrem Bruder Jürgen Kuzcynski, ihren Kindern Nina Blankenfeld, Peter Beurton und Michael Hamburger, vom Schriftsteller Hermann Kant, Lektor und Autor Werner Liersch, dem DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf sowie vielen anderen, die sie kannten und schätzten. Gesammelt und festgehalten vom Journalisten Rudolf Hempel.

Das Salz in der Suppe

"In meiner Erinnerung an die erstaunliche Frau spielen die Briefe eine nicht geringe Rolle. Zu Ruth Werners ereignisreichem Leben gehören sie wie das Salz in der Suppe", schreibt der Herausgeber. Die Erinnerungen der Weggefährten würzt er mit Auszügen aus ihren Briefen und mit Fotos. Es sind leise und laute Töne zu hören, ganz persönliche Worte und historische Analysen.

Und es werden immer noch unbekannte Facetten jener lebenslustigen, tapferen und klugen Frau gezeichnet. So sinniert Sohn Peter Buerton: "Eine Frage bleibt in Bezug auf meine Mutter noch offen: was hat sie bewogen, bei diesem ihrem gefährlichen und waghalsigen leben gleichzeitig noch drei Kinder - von drei Vätern - in eine Welt voller Unwägbarkeiten zu setzen? Ihre große Sehnsucht nach einer eigenen Familie, vielleicht um so ein kleines Stückchen Schlachtenseer Jahre auf ihre Weise zu wiederholen und an die eigenen Kinder weiterreichen zu können, spielte zweifellos eine Schlüsselrolle. Noch viele Jahrzehnte später, längst in der DDR, hat sie sozusagen völlig 'unsozialistisch' davon geträumt, ein Einfamilienhaus mit Garten zu bewohnen. Tatsächlich waren ihre Kinder ihr 'ganzes Leben' - sofern nur ein Mensch mehrere 'ganze Leben' gleichzeitig haben kann. Und sie konnte es. Dies war vielleicht ihre erstaunlichste Eigenschaft."

Eine beeindruckende Frau mit einem ungewöhnlichen Schicksal eben...

Dagmar Günther

Rudolf Hempel: Funksprüche an Sonja, Verlag neues leben, Berlin 2007, 256 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 3-355-01731-2



Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare