„Baustelle Demokratie“ nennt Serge Embacher sein Buch. Der Politikwissenschaftler und frühere Referent im Deutschen Bundestag plädiert für mehr bürgerschaftliches Engagement. Bleibt die Frage, wie viel staatliche Aufgaben auf den Bürger abgewälzt werden können.
Der Diagnose ist weitgehend zuzustimmen: Solidarität sei aus der bundesrepublikanischen Gegenwart weitgehend verschwunden. Ein Ausrufezeichen kann man hinter Embachers Feststellung setzen: „Der Wachmann, die Putzfrau, der Fassadenreiniger, die Friseurin, der Chauffeur, die Zeitungsbotin, der Möbelträger und das Zimmermädchen – sie alle dürfen nicht darauf hoffen, dass ihre miese Bezahlung und ihr prekärer Status einen Einstieg in bessere Arbeitsverhältnisse bedeutet.“
Mehr Bürgergesellschaft: das Gebot der Stunde
Das Fanal Willy Brandts besitzt immer noch Gültigkeit, vielleicht mehr denn je: „Mehr Demokratie wagen“ wollte die sozialliberale Koalition 1972. Und heute? Wenn alternative Lebens- und Denkweisen nicht nur als Nischen- oder Randexistenzen eine Chance haben sollen, dann bedarf es, sagt der Politikwissenschaftler Embacher, „einer Neuorientierung auf die gestaltende Kraft und die kommunikative Macht des bürgerschaftlichen Engagements“.
Es brauche mehr „bürgerschaftliche Ingenieure, Gestalter und auch Bauarbeiter“, schreibt er weiter. Diese müssten sich auf die Rückendeckung durch politische Akteure verlassen können, „die die Bedeutung des Themas verstanden haben und die heute noch – auch das muss klar gesagt werden – ganz klar in der Unterzahl sind“.
Mehr Bürokratie wagen?
Was ist konkret zu tun? Embacher zeigt Perspektiven auf, die problematisch sind. So kritisiert er, dass sich der Staat aus der Sozialpolitik zurückziehe, plädiert aber für eine „Engagementstrategie des Bundes“. Was aber soll dabei herauskommen, wenn der Bund den Rahmen für das private und gesellschaftliche Engagement setzt, aber weiter gespart und damit faktisch der Staat entlastet und den Bürgern das soziale Engagement einseitig aufs Auge gedrückt wird?
Eine zunehmende Bürokratisierung zu beklagen ist das eine, „die Berufung eines im Bundeskanzleramt angesiedelten Beauftragten der Bundesregierung für bürgerschaftliche Fragen“ zu fordern, das andere.
Schließlich setzt sich der Autor für eine dritte Kammer neben Bundestag und Bundesrat ein, eine Bürgergesellschaftskammer. Halt! möchte man rufen. Die viel beklagte Parteienverdrossenheit nimmt weiter zu, die Wahlergebnisse der Piraten zeigen es deutlich. Aber für unsere Demokratie überlebenswichtig ist eine Revitalisierung des Bundestages und der Landtage statt einer weiteren Körperschaft, über deren Zusammensetzung sich Embacher erst gar nicht näher äußert und die kaum in die Verfassungskonstruktion der Bundesrepublik Deutschland passt. Mehr Demokratie wagen, nicht mehr Bürokratie, sollte die Devise lauten.
Serge Embacher: „Baustelle Demokratie. Die Bürgergesellschaft revolutioniert unser Land“. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2012, 222 Seiten, 16,00 Euro. ISBN 978-3-89684-090-5
Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.