Kultur

Mehr Bildung wagen

von Matthias Dohmen · 6. Mai 2013

Das waren noch Zeiten, als in den 1960er- und 1970er-Jahren in einem bildungspolitischen Aufbruch, der weit über die Sozialdemokratie hinaus ging, Arbeiterkinder an die Universitäten kamen und imstande waren, „über Bildungsanstrengungen den sozialen Aufstieg zu organisieren“. Doch seitdem „erstarren die sozialen Verhältnisse wieder“, so lautet der Befund des Philosophen Julian Nida-Rümelin.

Die Zeiten großer kulturpolitischer Entwürfe scheinen zum alten Eisen zu gehören, die Ideale Wilhelm von Humboldts ein Fall fürs Antiquariat, stattdessen regiere der Markt: „Während erfolgreiche Bildungsreformen der Vergangenheit das durchgängige Charakteristikum aufwiesen, die Bildungsanstrengungen von unmittelbaren Verwertungsinteressen abzukoppeln, scheint es zur ‚hidden agenda’ geworden zu sein, diesen Prozess umzukehren“, schreibt der Professor für Philosophie an der Münchner Ludwigs-Maximilians-Universität Nida-Rümelin. Das aber könne „nach aller historischen Erfahrung“ nicht gut ausgehen.

Kritik am Bologna-Prozess

Große Aufgaben brauchen Visionen. Nina-Rümelin, der zwischen 1998 und 2002 für fünf Jahre in die praktische Politik ging, zuerst als Kulturreferent in München und dann als Kulturstaatsminister im Kabinett Gerhard Schröder, warnt vor dem Glauben, dass man ohne allen philosophischen Ballast auskommen könne. Er plädiert im Gegenteil für eine „Erneuerung des Humanismus als Grundlage aller Bildungspraxis und Bildungspolitik“.

In diesem Zusammenhang warnt er auch vor dem Bologna-Prozess – der Umgestaltung des Europäischen Hochschulraums – und wendet sich dezidiert dagegen, Menschen bildungs- und ausbildungsmäßig in Praktiker und Theoretiker zu unterteilen.

Die Vielfalt bringt es

Demokratie und Bildung, postuliert er weiter, „sind wechselseitig aufeinander angewiesen“. Im Kapitel über Inklusion schreibt Nida-Rümelin: „Die Philosophie humaner Bildung verlangt nach gleichem Respekt und gleicher Anerkennung unterschiedlicher Biographien, Kompetenzen, Interessen und Fähigkeiten.“ Die humane Bildung, die Nida-Rümelin in einer klaren Sprache entwickelt, müsse den ganzen Menschen im Blick haben: „Bildung soll nicht spalten, sondern einen.“

Versöhnen, statt spalten. Nida-Rümelin fragt vor dem Hintergrund, dass die Türkei das flächenmäßig größte und wohl eines Tages auch das wirtschaftlich stärkste EU-Mitgliedsland sein könnte, ob es nicht ein Meilenstein vorwärts wäre, dem Türkischen an deutschen Gymnasien den Rang einer Kultursprache einzuräumen. Das wäre ein Zeichen der Anerkennung, des Respekts. Für die türkischstämmigen Schülerinnen und Schüler wäre es ein Signal, „dass ihre Kultur einen hohen Rang hat und in dem Land, in dem sie leben, anerkannt und geachtet wird“. All das wird nicht in wenigen Tagen zu schaffen sein, aber für dieses Buch, in dem auch quer und um zwei, drei Ecken gedacht wird, sollte man dem Verfasser dankbar sein.

Julian Nida-Rümelin: „Philosophie einer humanen Bildung“, Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2013, 246 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-89684-090-7

Autor*in
Matthias Dohmen

Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.

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