Kultur

Luther, Kolumbus und die Folgen: Wenn Veränderung zur Last wird

Vor 500 Jahren verfasste Martin Luther seine 95 Thesen. Sie waren der Beginn einer Welle historischer Ereignisse, die die Welt zwischen 1500 und 1600 grundsätzlich veränderten. Dasselbe Schwanken zwischen Aufbruchsstimmung und Angstgefühl erleben wir auch heute – wie eine Ausstellung in Nürnberg zeigt.
von Michael Kniess · 14. August 2017
Welche Auswirkungen hatten die Neuerungen auf das Europa des 16.Jahrhunderts? Wie veränderten sie die Gesellschaft? Diesen Fragen, die genauso heute aktuell sind, geht derzeit die Sonderschau „Luther, Kolumbus und die Folgen“ anlässlich des Reformationsjahres 2017 nach.
Welche Auswirkungen hatten die Neuerungen auf das Europa des 16.Jahrhunderts? Wie veränderten sie die Gesellschaft? Diesen Fragen, die genauso heute aktuell sind, geht derzeit die Sonderschau „Luther, Kolumbus und die Folgen“ anlässlich des Reformationsjahres 2017 nach.

Die „Entdeckung“ eines neuen Erdteils, die Reformation der Kirche und die Vorstellung eines Weltbilds, in dem die Sonne als Zentrum gilt: Neben Martin Luther stellten auch Christoph Kolumbus und Nikolaus Kopernikus im 16. Jahrhundert grundlegende, bis dahin als alternativlos geltende Vorstellungen von der Beschaffenheit der Welt in Frage. Welche Auswirkungen hatten diese Neuerungen auf das Europa der damaligen Zeit? Wie veränderten sie die Gesellschaft? Diesen Fragen geht derzeit das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg erstmals in der großen Sonderschau „Luther, Kolumbus und die Folgen“ anlässlich des Reformationsjahres 2017 nach.

Zwischen Aufbruchstimmung und Endzeit-Angst

Die knapp 200 Exponate, die zum Großteil zuvor noch nie in Deutschland zu sehen waren, zeigen im größten kulturgeschichtlichen Museum des deutschen Sprachraums ein dramatisches Nebeneinander von Aufbruchstimmung und Endzeit-Angst, von Wissensdurst und Neugier-Verbot, das die Umbruchsjahre zu Neuzeit prägte. Denn die Entdeckungsfahrten führten immer deutlicher vor Augen, dass alleine am Schreibtisch betriebene Forschungen unzureichend waren. Eigene Erfahrungen und Experimente gewannen an Ansehen.

Der Arzt Andreas Vesalius erklärte die Autopsie menschlicher Leichname zur verbindlichen wissenschaftlichen Methode und stellte mit seinen Erkenntnissen tradiertes Buchwissen infrage. Damit legte das 16. Jahrhundert entscheidende Grundsteine für die moderne Wissenschaft. Zugleich galten diese Neuerungen aber auch als Nährboden für Unordnung, die den Fortbestand der Gesellschaft gefährdete. Martin Luther selbst empfand die tiefgreifenden Veränderungen als Vorzeichen des nahen Untergangs und war davon überzeugt, das Jüngste Gericht noch zu erleben.

Auf der Suche nach dem Weltuntergang

Im Umgang mit dem Veränderungsdruck der eigenen Zeit entstanden unterschiedliche Strategien, deren kulturgeschichtliche Bedeutung die Ausstellung „Luther, Kolumbus und die Folgen“  beleuchtet. Zeitgenossen begannen, ihre Umwelt nach Vorzeichen für den nahenden Weltuntergang abzusuchen: Ungewöhnliche Sternenkonstellationen oder Wetterphänomene galten als Vorboten für Unheil. Zugleich führte das kontinuierliche Beobachten des Himmels zu einem besseren Verständnis der Natur. Parallel entbrannte der Wunsch nach Rückzugsorten.

Dem großen Bedürfnis nach Ordnung folgend, wurden um 1560/70 an vielen deutschen Fürstenhöfen Kunst- und Wunderkammern eingerichtet. Diese dienten als Rückzugs- und Erfahrungsorte. Ungewöhnliche Phänomene, seien sie natürlichen oder künstlichen Ursprungs, wurden hier gesammelt und bewundert. Präparate, wie das eines südamerikanischen Gürteltiers, ermöglichten es, sich ohne gefahrvolle Reisen ein Bild von den exotischen Tieren der Neuen Welt zu machen und sie zu studieren.

Kleine Eiszeit und Hexenverfolgungen

Neben dem tiefgreifenden Wandel von Glaubens- und Weltbild kam in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine weitere Herausforderung hinzu: die „Kleine Eiszeit“, eine Phase globaler Abkühlung. Die extremen Witterungsbedingungen griffen mit Hungersnöten und Epidemien auf eine sehr elementare Weise ins damalige Leben ein. Extrem kalte Winter und nasskalte Frühjahrs- und Sommermonate führten zu Ernteausfällen. Die Preise für Lebensmittel stiegen. Auch Brennholz wurde oft knapp.

Statt, wie von Geistlichen aller Konfessionen gefordert, in Buße zu verharren, suchten viele Zeitgenossen nach Schuldigen für die Kälteperiode: Parallel zur Klimaverschlechterung setzten in vielen deutschen Territorien ab etwa 1560 erste schwere Phasen der Hexenverfolgung ein. Vielen vermeintlichen Hexen wurde „Wettermacherei“ zur Last gelegt. Glaubenskonflikt, wissenschaftlicher Fortschritt und die Entdeckung der Neuen Welt. Die Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts mussten einiges bewältigen.

Facebook als Wunderkammer des 21. Jahrhunderts

Uns scheint es heute nicht anders zu gehen in einer Welt, die für viele immer unübersichtlicher zu werden scheint. Menschen suchen Identität wieder in ihrer Kultur, Herkunft, Religion und Sprache. Was bleibt ist die Sehnsucht nach „Heimat“. Damals wie heute. Waren im 16. Jahrhundert Kunst- und Wunderkammern solche Heimat-Ersatz-Punkte, sind es heute Soziale Netzwerke, die als virtuelle Zweitheimat dienen oder Lounges an Bahnhöfen oder Flughäfen, die als moderne Wartezimmer den Reisenden ein Stück weit die Heimatlosigkeit unterwegs nehmen wollen.

Das Kuratorenteam um Stephanie Armer und Thomas Eser hat Ausstellungsidee und Gesamtkonzept deshalb zu einer Ausstellungsdramaturgie verdichtet, die nicht nur die Facetten der Neuerungen zu Luthers Zeiten vor Augen vor Augen führt, sondern auch auf die Gegenwart abzielt. Begriffe wie „Flüchtlingskrise“, „Modernisierungsverlierer“ oder „Lügenpresse“ zeugen davon, dass auch wir schnell an unsere Grenzen stoßen und unter ständigem Veränderungsdruck stehen: weg vom Alten, Bekannten, Vertrauten, hin zum Neuen, Fremden, Ungewissen. Leben heißt Veränderung: Zumindest das ändert sich nie.

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