Kultur

Lob der Geschichtslosigkeit

von Dagmar Günther · 2. Juli 2008

Der Autor zieht den Bogen weit: von Karl, dem Großen, vom Heiligen Römischen Reich deutscher Nation bis zu Napoleon, von Napoleon bis zum zweiten Weltkrieg und der Zeit danach. Um die deutsch-französischen Beziehungen geht es dem für wissenschaftliche Prosa und Essayistik mehrfach geehrten Philosophen Peter Sloterdijk und um die Bedeutung von Nachkriegszeiten für die Entwicklung der Kulturen. Von einer tausendjährigen deutsch-französischen Rivalität spricht er, um am Ende eine "wohlwollende gegenseitige Nicht-Beachtung" als das Erreichte und maximal zu Erreichende zu bezeichnen.



Grenzgänger: Sloterdijk


Sloterdijk ist ein Grenzgänger, pendelnd zwischen Kunst und Philosophie. Das zeichnet seinen Werdegang wie die Besonderheit seines Denkens aus. Im ZDF moderiert er zusammen mit Rüdiger Safranski die Gesprächsrunde "Im Glashaus - Das philosophische Quartett" und beweist hier, wie vergnüglich philosophische Streitgespräche sein können. Mit seiner "Kritik der zynischen Vernunft" bewies er, dass auch philosophische Schriften sich nicht nur unter Studenten verkaufen lassen.

Hier nun geht er mitten hinein in die Deutung der Zusammenhänge von Politik, Geschichte und Kultur.

Ausgang nehmen seine Interpretationen bei der Figur Napoleons, der Liquidator des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation gewesen sei und dessen Eroberungskriege die okkupierten Völker in einen Zwiespalt zwischen Nationalismus auf der einen Seite sowie Modernismus und Liberalität auf der anderen Seite gestürzt hätten. Zudem hätten diese den Typ des militärischen Genies und Geniepolitikers in einer Person attraktiv gemacht.

Faszination: Napoleon

Der geschilderte Zwiespalt ist nachvollziehbar. Man muss nur an die Wirkung Napoleons auf die großen deutschen Klassiker Goethe und Schiller denken. Bei Goethe ging der Riss bis in die Familie hinein. Er untersagte - wie bekannt - seinem Sohn August gegen Napoleon in den Krieg zu ziehen. Napoleon war für Goethe Symbol wichtiger politischer Reformen in Europa, für seinen Sohn jedoch der Okkupant, gegen den die deutsche Jugend sich aufzulehnen hätte. Darauf geht Sloterdijk nicht ein, wie er überhaupt informierte Leser voraussetzt, die über einiges Wissen um geschichtliche und kulturelle Zusammenhänge verfügen und dies zu seinen Thesen in Bezug setzen können.

Die eingangs herangezogene "tausendjährige deutsch-französische Rivalität - von der Reichsteilung unter den Nachkommen Karls des Großen bis zu ihrer Auflösung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts" ist schließlich ein umfassendes Kapitel, dem sich der Autor nur so weit stichpunktartig assoziativ annähert, wie es als beweiskräftiger Hintergrund für seine Theorie erforderlich ist.

Keine leichte Kost

Theorie ist dem Autor nicht Selbstzweck, sondern Mittel, strategisch produktive Wege für die Zukunft der Staaten zu finden. Er geht der Frage nach, wie sich Kulturen ausformen und welche Rolle hierbei die Verarbeitung traumatisierenden oder heroisierenden Kriegsgeschehens spielt, und bewertet zugleich nationale Politik. Eingegangen wird auch auf deutsche (Martin Walser, Günter Grass) und französische Literatur (Albert Camus, Jean-Paul Sartre) und deren Positionen hierzu.

Der Kulturphilosoph ordnet in seine Theorie von der kulturformenden Rolle der Nachkriegszeiten ein, was sich ihm an Historie von Politik bis Literatur darbietet. Seine Sicht ist dabei westlich zentriert. Das entspricht durchaus seiner in diesem Buch apostrophierten These zu den Nachkriegszeiten, wonach Niederlagen - sollen sie produktiv verarbeitet werden - eine Anpassungsleistung an die Kultur, die sich durchgesetzt hat, mit sich bringen müssten.

Eine leichte Kost bietet dieses schmale Büchlein nicht.



Dorle Gelbhaar


Peter Sloterdijk: Theorie der Nachkriegszeiten", Sonderdruck edition suhrkamp, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 72 Seiten, 7,00 Euro, ISBN 978-3-518-06992-9

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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