Die Anthologie "Das erste Buch. Schriftsteller über ihr literarisches Debüt" wurde am 26. 06. 2007 in der Vertretung des Landes Schleswig-Holstein in Berlin vorgestellt.
In der Reihe "Literaturbegegnungen" diskutierten und lasen Renatus Deckert, Günter Kunert und Emine Özdamar über ihre Gefühle und Gedanken hinsichtlich ihres Erstlingswerkes. Der
Bevollmächtigte des Landes Schleswig-Holstein,
Dr. Olaf Bastian, betonte in seiner Willkommensrede die Freude darüber, dass so viele wichtige Autoren in Schleswig-Holstein leben würden. Das Besondere an dem nun vorgestellten Band, der nun
zur Diskussion käme, sei eben die Konfrontation der Autoren mit ihren eigenen Texten und mit sich selbst.
Dies lasse die Anthologie zu einer Literaturgeschichte der besonderen Art werden. Renatus Deckert las zahlreiche Ablehnungsbriefe von Autoren vor, an die er sich gewandt hatte.
Darin hieß es, dass die Distanz inzwischen viel zu groß sei, das "Thema einfach nicht mehr zünde" oder man im fortgeschrittenen Alter von 70 Jahren mit seinen Kräften Haus halten müsse.
Renatus Deckert gab zu, nicht damit gerechnet zu haben, wie schwierig dieses Projekt werden würde.
Schließlich lasse das erste Buch eines Menschen ihn zum Schriftsteller werden und verändere unter Umständen das gesamte Leben. Viele Autoren hätten mit Skepsis auf seinen Vorschlag reagiert,
dann aber doch viel Freude dabei empfunden, sich ihren Gefühlen als Debütant anzunähern.
Mit Günter Kunert und Emine Özdamar, die eine der wenigen sei, die nicht aus dem deutschsprachigen Raum käme stünden zwei vollkommen verschiedene Autoren auf der Bühne.
Zusammenkunft von zwei hochdekorierten Autoren
Günter Kunert, der bereits mit 21 Jahren seinen ersten Band "Wegschilder und Mauerinschriften" veröffentlichte, zählt heute zu den wichtigsten deutschen Autoren überhaupt. Er ist inzwischen
Präsident des P. E. N. -Zentrums für deutschsprachige Autoren im Ausland und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Sein Erstlingswerk erschien 1950 im Aufbau-Verlag und ist kaum noch zu finden und in den Berliner Bibliotheken nur noch in einer "Historischen Sammlung" vorhanden. Dabei sei er damals von
Johannes R. Becher als eine große Neuentdeckung gefeiert worden und konnte durch ihn sein erstes Buch veröffentlichen.
Emine Özdamars Erstlingswerk "Mutterzunge" aus dem Jahr 1990 ist erst kürzlich in einer Neuauflage erschienen und in jeder Buchhandlung zu haben.
Die Autorin kam erstmals als Fabrikarbeiterin nach Deutschland. Nach einem Studium der Theaterwissenschaften in Istanbul arbeitete sie als Regieassistentin an der Deutschen Volksbühne, um
dort das Brecht'sche Theater zu lernen.
Emine Özdamar gehört heute zu den wichtigsten Regisseurinnen und Schriftstellerinnen Deutschlands. Erst kürzlich wurde sie in die Akademie der Deutschen Sprache und Dichtung aufgenommen.
Auch sie hat viele Auszeichnungen, wie etwa den Kleist-Preis, verliehen bekommen.
Schreiben für die eigene Unsterblichkeit
Günter Kunert hatte bereits als 14jähriger damit begonnen, zu schreiben. Nach dem Krieg hatte er an verschiedene Zeitungen geschrieben, um seine Geschichten und Gedichte zu veröffentlichen,
doch geklappt hatte es erst nach der schicksalhaften Begegnung mit dem damaligen Kulturstaatsminister, Johannes R. Becher. Wenn er heute sein Erstlingswerk in die Hand nehme, so falle ihm die
Naivität des Glaubens an eine ideale Gesellschaft auf. Sein Werk sei ein typisches Nachkriegsprodukt. Er war überzeugt davon, dass sich die Menschen verändern können.
Gleichsam erinnere er sich an die Lektüre des "Life Magazine", das über einen Unfall in einer Chemie-Fabrik in der amerikanischen Kleinstadt Donora berichtet hatte und bei dem 19 Menschen zu
Tode kamen. Dies habe bei ihm ein tiefes Misstrauen gegen den unbedingten Fortschrittsglauben ausgelöst und sein Interesse für Ökologie geweckt.
Renatus Deckert erkundigte sich nach den damaligen Lebensumständen Kunerts. Dieser antwortete, dass er als Ungelernter zunächst noch bei seinen Eltern gewohnt habe bis er schließlich mit
einer Grafiker-Ausbildung an der Kunsthochschule in Weißensee begonnen hatte. Dieses Studium hatte er aber nach nur 5 Semestern abgebrochen, als ihm klar geworden war, dass er als Schriftsteller
leben möchte.
Nun stehe er jeden Tag um 5.30 Uhr auf, um "etwas für die Unsterblichkeit" zu tun. Nach seinen Gefühlen zu seiner Geburtsstadt Berlin gefragt, gab Günter Kunert an, dass das heutige Berlin
nichts mehr mit dem Berlin seiner Jugend zu tun habe. Es bestehe jetzt aus Glaskästen, in denen statt Goldfischen eben Menschen leben würden, zudem seien ihm solche Orte wie der Potsdamer Platz
zutiefst unheimlich. Kaisborstel, der kleine Ort in Schleswig-Holstein indem Günter Kunert mitseiner Frau lebt, sei nun sein Zuhause wenn auch nicht die Heimat.
"Lebensunfälle" und ein dritter Weg
Emine Özdamar nannte ihren Artikel in der Anthologie "Lebensunfälle - Schreibunfälle". Sie hatte in einer kleinen westdeutschen Stadt damit begonnen, an ihrem ersten Roman zu schreiben, der
später unter dem Titel "Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, durch die andere ging ich raus" veröffentlicht werden sollte.
Sie habe beim Schreiben sehr gelitten, sich an vieles aus ihrer Kindheit erinnert, was ihr geradezu körperliche Schmerzen verursacht habe. Und doch sei dies sehr befreiend gewesen.
Über ihre Arbeit an ihrem Roman ging ihre damalige Beziehung in die Brüche, der Freund fühlte sich vernachlässigt und betrog sie schließlich. Dies zog ihr den Boden unter den Füßen weg und
sie fragte einen Freund wie sie es anstellen könne, dass ihre Leser mehr als nur eine oberflächliche Lektüre ihres Buches erleben würden. Dieser Freund antwortete ihr, der Text müsse
"Lebensunfälle" beinhalten und würde erst dadurch wahrhaftig sein. Somit kam sie dann doch davon ab, den Roman zu schreiben und begann mit der Erzählung "Mutterzunge" .
Emine Özdamar wurde häufig dafür gelobt, einen dritten Weg zwischen der Gastarbeiter- und der Betroffenheitsliteratur der Migranten gefunden zu haben.
Sie begann damit, sich mit dem Verlust der Muttersprache, dem Verlust der eigenen Kultur und der neu erlebten deutschen Kultur und Sprache auseinanderzusetzen.
In langen Telefonaten mit ihrer Mutter in Istanbul setzte sie sich mit den Problemen der Sprache, der Ästhetik und des Lebens "zwischen den Welten" auseinander und erkannte, dass sie darüber
unbedingt schreiben müsse. Schließlich sei ihr das Buch leicht von der Hand gegangen weil es eine Notwendigkeit gab, darüber zu schreiben.
Als sie fast damit fertig war, starb ihre Mutter in Istanbul.
Die Entscheidung, in deutscher Sprache zu schreiben, sei keine bewusste Entscheidung gewesen. Emine Özdamar hatte zu diesem Zeitpunkt ein Engagement bei Klaus Peymann und ihr Alltag war
deutsch. Zudem erwartete Peymann von ihr, dass sie schrieb und vielleicht mit einem Theaterstück zur gemeinsamen Arbeit beitrage, was sie später auch tat. Emine Özdamar ist eng mit der türkischen
Literatur verbunden und sandte Orhan Pamuk sogar ein persönliches Glückwunschtelegramm. Dies resultiere aber aus der erlebten '68er Bewegung in Istanbul, wo sie in einer Kommune lebte, in der das
Lesen oberste Pflicht war. So kam es zu zahlreichen, auch persönlichen, Kontakten mit modernen türkischen Schriftstellern.
Nicht nur für Literaturwissenschaftler interessant
Im Laufe des Abends bekamen die Zuhörer große Lust, sich mit der Anthologie von Renatus Deckert zu beschäftigen und nachzulesen, wie andere Schriftsteller über ihr Debüt denken und dachten.
Der Gedanke, dass Schriftsteller mit einer Distanz von mehreren Jahren oder gar Jahrzehnten auf ihr Erstlingswerk schauen und sich selbst hinterfragen, dürfte nicht nur für
Literaturwissenschaftler reizvoll sein.
Renatus Deckert: Das erste Buch. Schriftsteller über ihr literarisches Debüt; Suhrkamp Verlag; 357 Seiten; 10€
ISBN-13:978-3518458648
Maxi Hönigschmid
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