Kultur

„Life On The Boarder“: Kinder zeigen Schicksale im Flüchtlingslager

Jeder kennt die Bilder der Kinder in den Flüchtlingslagern in Syrien und im Irak. Über ihre individuellen Lebens- und Leidensgeschichten ist wenig bekannt. Der Dokumentarfilm „Life On The Boarder“ bringt sie ans Licht. Regie führten die Kinder selbst.
von ohne Autor · 10. November 2017
Ein Ausflug ins zerstörte Kobane wird zur traurigen Erfahrung
Ein Ausflug ins zerstörte Kobane wird zur traurigen Erfahrung

„Ich habe es verlernt, zu singen“, sagt Zohur, eine der Laienregisseure. Einst war das Mädchen aus Sindschar bekannt für seine schöne Stimme. Doch seit der Vater beim Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ umgekommen und die Mutter ebenfalls verstorben ist, ist die Zwölfjährige verstummt. Die Bemühungen eines Musikers im Flüchtlingslager, sie wieder zum Singen zu bringen, um seine kleine Band zu begleiten, erscheinen vergeblich. Oder vielleicht doch nicht?

Vom Leben auf der Flucht

Es ist eine von sieben Geschichten dieses Films. In ihnen erzählen die Mädchen und Jungen von ihrem Leben auf der Flucht, aber auch von ihrem Alltag im Camp der Vereinten Nationen. Manche erzählen ganz freimütig von dem, was sie erleiden mussten, andere halten sich zurück. Je beiläufiger die Reporter in eigener Sache berichten, desto eindringlicher wird das Grauen deutlich. Eine Landmine zerfetzte die Hand von Besameh. „In der Wüste verletzten die IS-Kämpfer mich ein zweites Mal“, erzählt sie. Nichtsdestotrotz steht für sie fest, eines Tages als Profi-Regisseurin arbeiten zu wollen. Nicht jedes dieser Zeugnisse hat so eine optimistische und kämpferische Note. Ein tiefes Trauma dürfte hingegen allen Beitragenden gemein sein. Ein Grund mehr, sich zu fragen: Woher nehmen diese Kinder die Kraft dazu, Zeugnis abzulegen? Welche Zukunft wartet auf sie?

Mithilfe von professionellen Kameraleuten entstanden eindringliche Kurzfilme, die in „Life On The Boarder“ nacheinander zu sehen sind. Immer wieder zeigen die jungen Filmemacher den Drang, jemanden aus einer ganz anderen Sphäre an ihrem Alltag zwischen flatternden Zeltplanen, Matsch und dem Warten auf ein besseres Leben teilhaben zu lassen. Wohl auch, um die Schrecken der Vergangenheit zu verarbeiten, die viele Kinderstimmen  verstummen ließen. So leben in dem Lager etliche irakische Jesiden, die als christliche Minderheit vom IS besonders brutal verfolgt wurden.

Traditionen der verlorenen Heimat

Häufig geht es darum, Medikamente für kranke Verwandte zu suchen, immer wieder aber auch darum, sich und den anderen Mut zu machen oder die Traditionen der verlorenen Heimat zu beschwören. Wie zum Beispiel im Fall von Hazem. Mit seiner Schwester, die vom IS verschleppt wurde und nun gänzlich schweigt, und der Großmutter lebt er in einem Lager unweit der syrisch-türkischen Grenze. Der 13-Jährige tut alles, um Birhat zum Lachen zu bringen, und sei es, indem er Blechdosen auf die Straße wirft und von durchfahrenden Hilfstransportern zerquetschen lässt.

Auch diese Geschichte kennt weder einen Anfang noch ein Ende. Immer wieder offenbaren sich Dramen, die für einen Film in voller Länge genügen würden. Das gilt nicht nur, aber gerade für Mahmoud und seine Schwester aus der kurdischen Stadt Kobane. Ihre Mutter wartet sehnlichst auf Nachrichten vom Vater, der in der Grenzstadt gegen den IS gekämpft hat. Die Kinder machen sich auf den Weg dorthin und treffen auf eine Ruinenlandschaft, in der auch ihr Haus versunken ist. Doch das ist nicht die einzige traurige Überraschung.

Aus Erfahrungen Geschichten machen

Die Idee für dieses ungewöhnliche Projekt hatte der iranisch-kurdische Filmemacher Bahman Ghobadi, der hier als Produzent agierte und die Kinder anleitete, aus Erfahrungen Geschichten zu machen. Die Materie ist ihm in mehrfacher Hinsicht vertraut. Als Jugendlicher verlor der 1968 geborene Künstler zahlreiche Familienmitglieder. Vor 13 Jahren wurde „Schildkröten können fliegen“, sein Film über ein Flüchtlingslager an der türkischen Grenze, mit einem Silbernen Bären und dem Friedenspreis der Berlinale ausgezeichnet. Dort wurde im vergangenen Jahr auch „Life On The Boarder“ gezeigt. Ein berührendes und schockierendes Dokument zwischen Poesie und Realismus, das aus den namenlosen Massen der Fernsehbilder endlich Individuen werden lässt, deren Berichte dringend gehört werden sollten.


Info: „Life On The Boarder“ (Irak/Syrien 2015), ein Film von Mahmod Ahmad, Ronahl Ezzadin, Samel Hossein, Delovan Kekha, Hazem Khodeldeh, Diar Omar und Zohour Saeid, 57 Minute, OmU, ab sechs Jahre

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