Kultur

Liebeserklärung an das eigene Werkzeug

von Bernhard Spring · 18. August 2010
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Er habe eher zu viel geschrieben als zu wenig, meinte Günter Grass schmunzelnd, als er im vergangenen Jahr während des Wahlkampfes in Ostdeutschland unterwegs war. Damals las er aus seinen kurz zuvor veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit der Wiedervereinigung. "Unterwegs von Deutschland nach Deutschland" zeigt einen nachdenklichen Grass, der nicht so recht in die damals heitere Zukunftsmusik einstimmen wollte. Allerdings sind diese Notizen trotz der typischen Grass'schen Grobkörnigkeit der Sprache literarisch kaum von Belang. Sein Reisebericht durch die sich auflösende DDR ist zuallererst ein politisches Buch.

Ein politisches Buch

Vielleicht ist Grass auch in erster Linie ein politischer Autor. "Demokratie ist kein fester Besitz, sie muss immer wieder neu verteidigt, neu definiert werden", fordert er unermüdlich, auch von sich selbst. So kann es kaum überraschen, dass seine jüngste Veröffentlichung ebenfalls ein politisches Buch ist. Grass zeichnet mit "Grimms Wörter" eines der ehrgeizigsten Projekte der deutschen Sprachwissenschaft nach: Die Zusammenstellung eines Wörterbuchs durch die Gebrüder Grimm, das über alle Zeiten hinweg Gültigkeit haben sollte.

Als Auftakt für seine Romanhandlung wählte Grass den Protest der Grimms gegen die Aufhebung der hannoveranischen Verfassung im Jahr 1837. Dieser führte zu ihrer Entlassung von der Universität Göttingen führt. So stellt Grass die Märchensammler Jacob und Wilhelm Grimm als Sprachwissenschaftler und Demokraten der ersten Stunde zugleich dar. Als geistiger Weggefährte begleitet er die Grimms hautnah, so kann er auch mal neben ihnen auf einer Parkbank Platz nehmen. Die Entstehung des Wörterbuchs beschreibt Grass als geistesgeschichtlichen Dreh- und Angelpunkt und sucht immer wieder den Zusammenhang mit seinem eigenen Leben und Schaffen.

Intensive Betrachtung der Sprache

Zunächst machen sich Jacob und Wilhelm Grimm enthusiastisch an die Arbeit. Sie glauben, in wenigen Jahren ihr Werk abschließen zu können. Doch bald entdecken sie den wahren Umfang ihres Schaffens und kommen wesentlich langsamer voran als angenommen. Als Jacob Grimm 1863 vier Jahre nach seinem Bruder stirbt, ist er gerade einmal bei dem Wort "Frucht" angelangt. Erst 1960 liegen alle 32 Bände des "Deutschen Wörterbuchs" abgeschlossen vor.

Waren die Grimms von der entdeckten Vielfältigkeit der deutschen Sprache beeindruckt, so ist es Grass nicht weniger. "Labsal" beispielsweise sei so ein fast vergessenes Wort, dessen Klang allein schon Tröstung verschaffe. Mit einer solch intensiven Betrachtung der deutschen Sprache verneigt sich Grass als Schriftsteller vor seinem Handwerkszeug.

Autobiografische Trilogie vollendet

Zugleich vollendet er damit seine autobiografische Trilogie, die seit der Publikation von "Beim Häuten der Zwiebel" im Jahr 2006 große öffentliche Aufmerksamkeit erregte. Im schonungslosen Umgang mit sich selbst hatte Grass darin unter anderem auch seine Vergangenheit bei der Waffen-SS erstmals zur Diskussion gestellt. Zwei Jahr darauf folgte mit "Die Box" ein Resümee seines späteren Lebensweges, wobei er dem Leser auch Einblicke in sein Privatleben gewährte, sich weiter häutete.

In "Grimms Wörter" richtet Grass nun den Fokus auf seine Arbeit: Auf den Umgang mit der Sprache genau wie auf das politische Engagement der Gebrüder Grimm. Dabei versucht Grass, ihr Handeln zeitlos erscheinen zu lassen, um aus ihm überzeitliche Ansprüche abzuleiten. Damit schafft er eine tatsächliche Liebeserklärung an die politische Literatur. Und da schimmert sie wieder durch: Grass' Vorstellung von einer Politik der Besonnenheit, der "kleinen Schritte", des "Fortschritts im Schneckentempo". In einem gemächlichen Sprachtempo gelingt Grass ein flüssig lesbarer Abriss seines literarischen und politischen Gesamtwerks - und vielleicht sogar ein gelungenes Vermächtnis.

Günter Grass: "Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung", Steidl Verlag, Göttingen, 2010, 368 Seiten, 29,80 Euro, ISBN 978-3-86930-155-6

Autor*in
Bernhard Spring

erhielt 2008 den Literaturpreis des Landes Sachsen-Anhalt, 2011 erschien sein erster Roman, „Folgen einer Landpartie“.

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