Kultur

„Les Sauteurs“: Auf dem Sprung nach Europa

Der berührende Film „Les Sauteurs“ dokumentiert das Leben im Flüchtlingscamp vor Melilla und die Versuche verzweifelter Afrikaner, die Grenze zu Europa zu überwinden.
von ohne Autor · 18. November 2016
Die spanische Enklave Melilla
Die spanische Enklave Melilla

Die Integration von Flüchtlingen genießt seit Jahren höchste mediale Aufmerksamkeit. Was aber dort passiert, wo die Menschen an Europas abgeschotteten Grenzen stranden, wird selten gezeigt. Zum Beispiel vor den Toren der spanischen Enklave Melilla in Marokko.

Chor der Verzweifelten

Vor diesem Hintergrund wagten Regisseur Moritz Siebert und Cutter Estephan Wagner ein ungewöhnliches Experiment: Sie gaben einem der vielen Geflüchteten, die auf einem Berg nahe Melilla auf den richtigen Moment zum, wie sie es nennen, Angriff auf die Grenzanlage warten, eine Kamera, um den Alltag der zeitweilig rund 1000 Menschen aus Ländern südlich der Sahara, festzuhalten. Knapp drei Monate filmt Abou Bakar Sidibé den Alltag in dem improvisierten Camp, hält fest, was die Menschen antreibt, um jeden Preis an ihrem Traum von einem besseren Leben festzuhalten. Und fängt so die Perspektive der Migranten ein. Bei Drehbeginn lebt er schon seit mehr als einem Jahr zwischen Zelten, Decken und Müllhaufen.

Zusammen mit den anderen bildet der 31-Jährige, der vormals als Englischlehrer gearbeitet hat, einen Chor von ebenso Verzweifelten wie Unerschrockenen, die vor allem der Glaube an ein El Dorado namens Europa dazu antreibt, es immer wieder mit auf sie einprügelnden Grenzschützern aufzunehmen. Auf subtile Weise wird dieser Glaube aber auch kritisch hinterfragt. Immer wieder blicken die jungen Männer sehnsüchtig aufs Meer und die vorgelagerte spanische Siedlung. Europa ist zum Greifen nah, doch könnte es angesichts der mächtigen Grenzbefestigung ferner kaum sein.

„Les Sauteurs“ ist eine berührende Dokumentation

Siebert und Wagner fertigten aus dem Rohmaterial und Sidibés Erinnerungsbericht über die Flucht eine berührende Dokumentation, in der der Dokumentierende zugleich die Hauptperson ist. Mit Szenen aus dem Flüchtlingsleben, die so wohl noch niemand gesehen hat. Deren ästhetische und erzählerische Kraft reicht manchmal gar über das eigentliche Thema hinaus. Mit der Zeit entdeckt Sidibé immer mehr Details. Als wäre die Arbeit mit der Kamera für ihn eine Therapie, das Erlebte zu verarbeiten. So erzählt „Les Sauteurs“ nicht nur von Flüchtlingen, sondern auch davon, wie ein Mensch das Filmemachen für sich entdeckt.

Doch der Film, der auf der diesjährigen Berlinale lief, folgt nicht nur Sidibés Perspektive. Immer wieder schauen wir in die Linse einer Überwachungskamera. Eine der nächtlichen Aufnahmen zeigt helle Flecken, die sich den Berg hinunterbewegen. In der Mitte des Bildes thront ein Fadenkreuz. Als würde man in ein Zielfernrohr blicken. Es ist einer jener Momente, wo sich Sidibé und die anderen wieder einmal aufmachen, endlich Europa zu erreichen. Einer jener Momente so vieler Enttäuschungen. Für manchen Afrikaner gehen die Vorstöße tödlich aus. Erscheinen die Migranten in diesen Bildern als diffuses Etwas, gibt Sidibé ihnen in seinen Aufnahmen ihre Individualität zurück. Und damit ihre Würde.

Schmerzhafte Abkehr von der Heimat

„Hast Du kein Leid erfahren, weißt du nichts vom Leben“, sagt er in seinem Voice-over zum Film. „Willst Du Leid erfahren, musst Du Deine Heimat verlassen.“ Was das bedeutet, ist in dieser Dokumentation schmerzhaft zu erfahren. Dort oben auf dem Gurugu, zwischen den Bäumen haben sich die Entwurzelten, übrigens allesamt Männer, eine neue Struktur des Zusammenlebens gegeben, mit zum Teil brutalen Regeln. Ihr Gegner ist vor allem die marokkanische Polizei, die ihr klägliches Hab und Gut immer wieder niederbrennt. Trotzdem gibt es immer wieder Situation voller Freude. Manchmal genügt dafür schon das Lieblingslied auf dem Smartphone. „Ich wollte zeigen, dass wir Menschen sind, die leben, die nicht tot sind“, so Sidibé.

So gesehen ist „Les Sauteurs“ – trotz all der Momente von Angst und Lethargie – ein beeindruckendes Bekenntnis zum Leben, wenn nicht gar eine Mission in dieser Sache. Seine besondere Entstehungsgeschichte und ein unaufdringlicher Erzählstil macht diesen Film umso wirkungsvoller.

Info: Les Sauteurs / Those Who Jump (Dänemark 2016), ein Film von von Moritz Siebert, Estephan Wagner und Abou Bakar Sidibé, OmU (Französisch/Bambara), 79 Minuten.

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