Leipziger Buchpreis: Die Ideen der Rechten verstehen
Åsne Seierstad hat viel gesehen in ihrem Leben. Die 48 Jahre alte Norwegerin hat schon als Korrespondentin aus dem Irak und aus Afghanistan berichtet – beides Länder, in denen Gewalt herrscht, Angst, Zerstörung und Verzweiflung das Leben bestimmen. Trotzdem, sagt Seierstad, sei ausgerechnet das Buch über ihr Heimatland Norwegen das schwierigste, das sie je geschrieben habe.
Angriff auf die norwegischen Jusos
Für „Einer von uns“ hat Seierstad am Dienstag den mit 20.000 Euro dotierten „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2018“ erhalten. Der dokumentarische Roman handelt von dem Rechtsextremisten Anders Breivik, der 2011 in Oslo eine 900 Kilogramm schwere Bombe gezündet und dann auf der Insel Utøya 69 Menschen getötet hat – viele von ihnen waren jünger als 18 Jahre. Der Angriff richtete sich gegen ein Sommercamp der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF, so etwas wie die norwegischen Jusos. Das Motiv: Rassismus und Hass auf alle Linken.
Die Geschehnisse von damals arbeitet Seierstad in ihrem Buch akribisch auf. „Wir lesen von den Schüssen, den Salven“, sagte die FAZ-Literaturkritikerin Verena Lueken in ihrer Laudatio im Leipziger Gewandhaus. „Wir spüren den feuchten Waldboden, über den die Jungen und Mädchen zu fliehen versuchen, spüren ihre Angst.“ In der Tat beschreibt Seierstad die Ereignisse aus dem Oktober 2011 schonungslos detailliert – so lobte der „Spiegel“ auch „ihr hervorragendes Gespür für Storytelling“.
Das Schweigen in Worte fassen
Hinter der genauen Beschreibung in ihrem Buch steht Seierstads Wille, die unvorstellbare Gewalttat von Utøya zu verstehen. „Schriftsteller sein heißt, die Antworten, das Schweigen, das Handeln in Worte zu fassen und auf Papier zu bringen“, sagte die Autorin in ihrer Dankesrede. So geht es in „Einer von uns“ auch darum, den Fall Breivik verständlich zu machen. „Er wurde festgenommen. Ins Gefängnis gesteckt“, sagte Seierstad. „Aber was ist mit seinen Ideen?“ Ist Breivik ein Ausnahmefall – „oder ist er Teil eines Trends?“
Der Trend nach rechts außen – in ganz Europa sei er zu spüren, betonte Seierstad. Das stimmt: Nicht zuletzt in Sachsen ist der Rechtsextremismus auf dem Vormarsch – von Pegida über klassische Neonazis bis hin zu den Wahlerfolgen der rechtspopulistischen AfD. In der Partei gibt es sogar einen prominenten Politiker, der Anders Breiviks Taten im vergangenen Jahr als eine Art Verzweiflungstat bezeichnet hat – ohne dass es in der AfD dagegen eine klare Abgrenzung gab.
„Rechten widersprechen“
Auch die Leipziger Buchmesse bleibt von dem Rechtstrend nicht verschont: Wie bei der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Jahr, präsentieren in Leipzig rechte Verlage ihr Sortiment. Allerdings gibt es Proteste dagegen: So haben am Dienstagabend mehrere hundert Menschen gegen die rechten Verlage demonstriert. Ihre Botschaft: „Meinungsfreiheit nützen, Rechten widersprechen!“
Ähnlich lässt sich auch die Preisverleihung an die Schriftstellerin Seierstad verstehen – als ein Zeichen der Buchmesse-Macher und der Stadt Leipzig gegen die Verharmlosung rechter Ideologie und Gewalt. Immerhin finden sich viele Ideen aus Breiviks Gedankenwelt auch in Deutschland: der Islamhass, die Frauenverachtung, die Hetze gegen Linke und Migranten. Das alles gibt es auch hier – bis in die Mitte der Gesellschaft. So gesehen ist auch hierzulande Breivik „Einer von uns“.
ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.