Es ist ein flammendes Plädoyer für die Demokratie, das der Göttinger Wissenschaftler Samuel Salzborn unter dem Titel „Demokratie. Theorien, Formen, Entwicklungen“ veröffentlicht hat. In komprimierter Form bietet er einen exzellenten Überblick über das Forschungsfeld der Demokratie- und Demokratisierungsforschung und bündelt politikwissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema.
Im wirklichen und im virtuellen Leben hat sich die Demokratie als normatives Idealbild durchgesetzt. Dennoch, eine allgemeinverbindliche Definition von Demokratie gebe es nicht, konstatiert Salzborn, Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften am Institut für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen. Sein Demokratieverständnis fußt auf einer Formulierung des US-amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln aus dem Jahr 1863. Lincoln verstand Demokratie in seiner berühmten Rede „Gettysburg Address“ als „government of the people, by the people and for the people“.
Die Erfindung des Wortes Demokratie wird dem griechischen Historiker Herodot (5. Jhr. v.u.Z.) zugeschrieben. Akribisch beschreibt Salzborn die antike Demokratie und den Weg in die Moderne. Erstmals war die Differenzierung von arm und reich mit Blick auf die Teilhabe an politischen Entscheidungen in der attischen Demokratie (5. Jhr. v.u.Z.) aufgehoben. Allerdings hatten von den 250.000 bis 300.000 Einwohnern Athens nur bis zu 35.000 den Bürgerstatus, der politische Teilhabe ermöglichte. Kinder, Frauen und Sklaven waren davon ausgeschlossen.
Auf dem Weg in die Moderne lässt Salzborn Leben und Werk von großen Gelehrten wie Platon, Aristoteles, Machiavelli, Jean-Jacques Rousseau, Max Weber und Ralf Dahrendorf Revue passieren.
Akteure der modernen Demokratie
Als wichtigste Akteure der modernen Demokratie wertet Salzborn auf der einen Seite die politischen Parteien, auf der anderen Seite die (Interessen-)Verbände. Die möglichen Funktionen von Parteien in Demokratien umfassen ein breites Spektrum und reichen von der Unterstützung und Anregung der politischen Willensbildung in der Bevölkerung, der Bündelung und Organisierung von politischen Interessen über die Repräsentation des WählerInnenwillens bis zur Einflussnahme auf administrative Prozesse der Legislativen und der Exekutiven.
Im Unterschied zu politischen Parteien besetzen die (Interessen-)Verbände in der Regel nur ein Feld und orientieren sich nicht auf eine direkte Einflussnahme im politischen System, sondern agieren indirekt durch die Ausübung von öffentlichem Druck oder durch den Versuch der gezielten Einflussnahme auf Parteien, Parlament und Regierung (lobbying). Der Organisationsgrad ist in Verbänden in der Demokratie größer, als der in Parteien, da Verbände neben explizit politischen Zielrichtungen auch im sozialen, wirtschaftlichen, religiösen oder sportlichen Bereich tätig sind.
Demokratisierungswellen
Basierend auf Forschungen von Samuel Huntington stellt Salzborn die Demokratieentwicklung im historischen Verlauf als ein wellenförmiges Auf und Ab dar. Die erste Demokratisierungswelle fand zwischen 1828 und 1926 statt. Sie hatte ihren Ursprung in der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Zu ihr werden unter anderem die entstehenden Demokratien in Europa, Australien und Neuseeland gezählt.
Die zweite, kurze, Demokratisierungswelle begann 1943 und endete 1962. Ihr werden neben –abermals zahlreichen westeuropäischen Staaten – unter anderem Argentinien, Brasilien, Japan, Südkorea und Israel zugerechnet. Die dritte Demokratisierungswelle setzte 1974 ein und endete Mitte der 90er Jahre. Zu dieser Demokratisierungswelle werden neben westeuropäischen Staaten wie Spanien, Portugal oder Griechenland, die auch in der Nachkriegszeit autoritäre Regime waren, die osteuropäischen Staaten und Zerfallsrepubliken der ehemaligen Sowjetunion gezählt.
Der oft als neue Demokratisierungswelle bezeichnete „Arabische Frühling“ hat sich aus Sicht Salzborns als „nachhaltige Illusion“ und „westlichen Wunschtraum“ entpuppt. In der Realität, so der Demokratieforscher, laufe ein autoritärer Rückschlag. Autoritäre Regime würden nun in islamistisch-totalitäre Regime verwandelt. Warnend stellt Salzborn fest, dass die Empathie für den Kampf für Demokratie und Freiheit in der westlichen Welt seit 9/11 nicht zu-, sondern abgenommen habe. So haben Salzborns Forschungen ergeben, dass Antiamerikanismus und israelfeindlicher Antisemitismus gerade in der Europäischen Union an Relevanz gewinnen.
Internet und Demokratie
Das Internet ist aus dem Alltag von Demokratien nicht mehr wegzudenken. Das Medium kann ein Hilfsmittel für die Verbreitung und Vertiefung von Informationen und damit die Pluralisierung von Entscheidungsgrundlagen in einer Demokratie sein. Faktisch setzt dies aber den mündigen Bürger voraus. Das Internet gibt vor ihn mit zu erschaffen. Salzborn dagegen erklärt, dass wir online in aller erster Linie Verbraucher seien und von den Anbietern von Websites auch so behandelt würden – als Kunden, als Marktteilnehmer, als Personen, denen bestimmte Produkte verkauft werden sollen.
Wenig begeistert zeigt sich Salzborn von Wikipedia. Mit dem von allen bearbeitbaren Online-Lexikon drohe die demokratiepolitische Gefahr, die Generierung von scheinbarem Wissen über politische Fragen privaten Akteuren ohne jede Qualitätskontrolle und juristische Haftung zu überlassen.
In seinem uneingeschränkt lesenswerten Lehrbuch „Demokratie. Theorien, Formen, Entwicklungen“ appelliert Salzborn an die LeserInnen, selbstbewusst, selbstkritisch und selbstverteidigend für die Demokratie Partei zu ergreifen. Politisches Ziel müsse die weltweite Demokratisierung sein. Dabei müssen Demokratien, so Salzborn mit Blick auf den Iran, auch die militärische Auseinandersetzung als unerfreuliche, aber notwendige Option der Politik im Blick behalten. Schaubilder und Grafiken am Ende jeden Kapitels, eine umfangreiche Bibliografie, ein Glossar und ein Personenverzeichnis machen das Lehrbuch zu einem großartigen Nachschlagewerk in Sachen Demokratie.
Samuel Salzborn: „Demokratie. Theorien. Formen, Entwicklungen“, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2012, 153 Seiten, 14,99 Euro, ISBN 978-3-8252-3782-0