Jung, vorbestraft, russlanddeutsch: „Nemez“ erzählt vom emotionalen Chaos eines Heranwachsenden und den Existenznöten einer heimatlosen Familie.
Schätzungsweise rund drei Millionen deutsche Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, gemeinhin Russlanddeutsche genannt, leben in der Bundesrepublik. Doch was eine der größten Migrantengruppen umtreibt, hat sich bislang verschwindend gering im hiesigen Filmschaffen niedergeschlagen. Da wäre zum Beispiel das Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen: Werden viele Russlanddeutsche in den Ex-Republiken als Deutsche gemobbt, werden sie hierzulande häufig abschätzig als Russen einsortiert.
Regisseur Stanislav Güntner geht es in „Nemez“ (russisch für Deutscher) allerdings nicht um eine Mikrostudie über eine beziehungsweise seine Community: 1977 im russischen Tscheljabinsk geboren, siedelte er 1989 wie Tausende andere als Spätaussiedler nach Westdeutschland. Güntner legte seinem ersten Langfilm eine erweiterte Fragestellung zugrunde. Am Beispiel einer russlanddeutschen Familie will er jenseits ethnischer Grenzen die Widrigkeiten des Alltags, aber auch die psychologische Verfassung jener Einwanderer beleuchten, die vergeblich versuchen, in Deutschland anzukommen.
All die Klischees
Fehlende Akzeptanz wird letztendlich auch durch die Wirkungsmacht von Klischees über Migranten bedingt, die häufig keiner auch noch so hartnäckigen politischen oder pädagogischen Aufklärung weichen wollen. Dass Güntner seinen Film aber genau damit überfrachtet, hinterlässt nicht nur einen üblen Beigeschmack, sondern stellt auch den aufklärerischen Anspruch dieser Produktion infrage.
Reichlich klischeehaft ist allein der soziale und emotionale Kontext, von dem aus der Russlanddeutsche Dima in all die Verwicklungen startet, die er zu durchleiden hat. Arm und kriminell wäre die passende Umschreibung dafür. Die Mutter arbeitet als Putzfrau für betuchte Berliner, weil die Behörden ihr Lehrer-Examen nicht anerkennen. Kaum besser ergeht es dem Vater, einem studierten Geologen. Dima will mit ihm ein Taxiunternehmen aufbauen. Doch dafür ist ein Haufen Geld nötig. Den will der Sohn um jeden Preis zusammenkratzen. Also geht er mit dem Kunsthehler Georgij immer wieder auf Raubzug. Doch auch bei den gewieftesten Einbrechern geht mal etwas schief: Dima landet im Jugendknast. Dort schüttelt er seine kriminelle Energie ab.
Kaum wieder draußen, will Dima vollkommen neu durchstarten. Doch das ist aufreibender als gedacht. Er versucht, sich von Georgij und seinen Helfershelfern zu lösen. Doch der klebt wie eine Klette an ihm und setzt ihm immer wieder mit Drohungen, Erpressungen und auch roher Gewalt zu. Und da wäre noch eine Frauenbekanntschaft, die alles durcheinanderwirbelt. Bei einer gemeinsamen Putztour mit seiner Mutter lernt Dima die bezaubernde Nadja kennen. Beide fassen schnell Vertrauen zueinander, doch ihr Vater würde den Ex-Knacki am liebsten direkt dorthin zurückbefördern, wo er seiner Meinung nach hingehört. Dima beginnt zu verstehen, dass er für einen Neuanfang mit Nadja einen radikalen Schritt wagen muss.
Scheitern und Hoffnung
Das alles böte einen großartigen Stoff für eine emotional anrührende, aber auch mit den Realitäten hart ins Gericht gehende Coming-of-Age-Sozialstudie. Doch „Nemez“ gelingt es nicht, den Zuschauer über die emotionalen Spannungsbögen zwischen Nadja und Dima hinaus bei der Stange zu halten. Dazu ist der große Rahmen dieser Erzählung einfach zu schablonenhaft. Immerhin lässt das fragile Band zwischen dem jungen Paar etwas Raum für dramatische Wendungen: Ist ihre Liebe stark genug, um Dimas verbrecherische Vergangenheit auszuhalten? Kann Nadja den Einflüsterungen ihres Vaters und Ex-Freundes widerstehen?
Doch die anderen Figuren wecken ob ihres eindimensionalen Wesens wenig Neugier oder Empathie. Mögen Dimas Eltern auch alles tun, um ihr Schicksal in die Hand zu nehmen: Am Ende schmeckt bei ihnen alles nach Resignation – eine Geisteshaltung, die sie mit Georgij teilen, auch wenn der sie weitaus zynischer auslebt. Doch all die Molltöne sind zu dominant, um auf erhellende oder zumindest erfrischende Weise vom gefühlten oder realen Fremdsein zu erzählen.
Immerhin hinterlässt dieser Film auch etwas Hoffnung: Nämlich die, dass von den Hauptdarstellern Mark Filatov (Dima) und Emilia Schüle (Nadja) noch viel zu hören und zu sehen sein wird: Die Art, wie sie ihren Figuren vor dem Hintergrund eines blassen Drehbuchs kräftige Farben verleihen, beeindruckt zutiefst.
Info: Nemez (Deutschland 2012, ein Film von Stanislav Güntner, mit Mark Filatov, Emilia, Schüle, Alex Brendemühl, Michael Schweighöfer u.a, 93 Minuten
Ab sofort im Kino