Kultur

Lange nach Nietzsche

von Die Redaktion · 28. April 2006

Aus welcher Perspektive sie ihren Fall und dessen Vorgeschichte erzählen soll, fragt sich eine Richterin. Keine der Antworten, die ihr einfallen, sagt ihr zu. Dabei ist die Perspektive des Erzählens wesentlich: Sie bestimmt, was für wichtig gehalten wird, wie was gewertet werden soll, mit wem wir mitempfinden, was dem Geist unserer Zeit entspricht?

Letztendlich wählt sie die auktoriale Perspektive. Das ist jene eines allwissenden, hier mitunter durch ein imaginäres "Wir" vertretenen, Erzählers.

Die Richterin ist als Kind ihrer Zeit in das "Wir" des Zeitgeistes ebenso miteingebunden wie alle in den Fall verwickelten Personen. Das wird auch ihre Entscheidung prägen. Die Suche nach dem richtigen Urteil im Prozess bildet die Rahmenhandlung für das geschilderte Geschehen.

Hauptfigur des Buches ist die zynisch kluge, kräftige und schnelle fünfzehnjährige Ada. Wegen gewalttätigen Verhaltens wurde sie ihres bisherigen Gymnasiums verwiesen Auf der privaten Schule "Ernst Bloch" erhält sie eine letzte Chance für den Pfad zum Abitur.

Auch hier wird sie wieder zur Außenseiterin und überdies selbst zum Opfer eines durch Neid, Missgunst und sexuelle Neugier ausgelösten gewalttätigen Übergriffs. Mitschüler Olaf will ihr in Zukunft beistehen. Doch Ada kann rein positive Gefühle auf Dauer nicht ertragen und macht ihn selbst an seinem Geburtstag zum sexuellen Spielzeug.

Als der gut aussehende und impotente Halbägypter Alev an das "Ernst Bloch" kommt, wird die ihm verfallende Ada zu dessen Komplizin beim Ersinnen von Machtspielen. Sie verführt den aus Polen stammende, Sport- und Deutsch-Lehrer Smutek. Alev filmt die beiden dabei . Mit Verweis auf das bereits vorliegende belastende Material zwingen Alev und Ada Smutek zu weiteren sexuellen Handlungen vor der Kamera. Sie erpressen ihn. Mit Smuteks Geld finanziert Alev eine Party. Ada bezahlt ihr Schulgeld, das ihr Stiefvater dem Gymnasium schuldig geblieben war.

Während einer Klassenfahrt rettet Ada Smuteks Frau vor dem Tod durch Ertrinken. Smutek glaubt deshalb an die seelische Erreichbarkeit des Mädchens. Als Alev ihm zum üblichen Termin plötzlich mitteilt, das Spiel sei aus, schlägt er diesen zusammen Er tötet Alev fast und verunstaltet ihn auf Lebenszeit. Ada fühlt sich verantwortlich für den durch sie in diese Situation geratenen Smutek.

Das Buch strotzt über viele Seiten vor hochphilosophischen Duskursen, die Ada und Alev miteinander führen und in denen der Geist der Zeit und speziell ihrer Generation erörtert wird.

Ada und Alev sehen Nietzsche als ihren Vorläufer. Nietzsche erklärte Gott für tot. Aber sie können sich nicht einmal im Gegensatz zu einem Glauben oder einer Weltanschauung behaupten. Alles ist ihnen gleich. Für sie bleibt nur das Spiel. Sie erproben alles, loten alles aus. Die Gefährlichkeit solchen Spiels wird ihnen zu spät bewusst.

Ada leugnet das Belastende ihrer Situation. In exzessivem Laufen entrinnt sie ihm jeweils für kurze Zeit. Während des gemeinsamen Lauftrainings erzählt Smutek ihr von seiner Heimat Polen. Auch da sind Verlorensein und Suche. Doch Smutek hatte etwas zu verlieren.

"Spieltrieb" ist ein intelligentes Buch, das mit der scheinbaren Selbstverständlichkeit moralischer Vorstellungen aufräumt. Zum Schluss lässt es fast nichts übrig.



Dorle Gelbhaar


Juli Zeh " Spieltrieb", btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH München, 2006, 569 Seiten, 10,00 Euro, ISBN 3-442-73369-3

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