Haben Sie Hitler gesehen? Wussten Sie von den Verbrechen des „Dritten Reiches“? Diese Fragen hat der Schriftsteller Walter Kempowski in den 70ern mehr als 200 Bundesbürgern gestellt. Die beiden damals veröffentlichten Bücher sind jetzt zu einem Band zusammengefasst worden, die Nachworte von Sebastian Haffner und Eugen Kogon eingeschlossen. Joachim Gauck hat für die Ausgabe eine Vorrede geschrieben.
Die Antworten, die Kempowski bekam, sind so, wie sie gefallen sind, niedergeschrieben worden. Über ihnen stehen kursiv ein Hinweis auf die Person und in den meisten Fällen ihr Geburtsjahr: „Bäcker, 1917“, „Dozent, 1931“ oder „Hausfrau, 1896“. So entsteht, schreibt Bundespräsident Gauck, ein Bild des Diktators und seines Krieges, das komplexer und vielschichtiger sei als manche Analyse: „Schrecklich und witzig, komisch und tragisch, zum Fürchten und zum Lachen. Manchmal auch zum Ekeln.“
Haben Sie davon gewusst? „KZ? Nein. Ja. Also, ganz nein will ich nicht sagen“, antwortet ein 1913 geborener Optiker. Ein vier Jahre später geborener Bäcker gibt zu Protokoll: „Ob ich vom KZ gehört hab’? Eigentlich weniger.“
„Geschluchzt, als ob der Heiland kommt“
Man weiß, dass Hitler auf viele Frauen jeglichen Alters eine unglaubliche Faszination ausgeübt hat. Eine Beamtin, Jahrgang 1921: „Et war ‘n Jott, nich wahr? Wir haben nichts Böses durch ihn erfahren. Außer dass Krieg kam.“ Und ein Lehrer, 1924, der zu seiner Schande gestand, während eines Aufmarschs am Brandenburger Tor mitgejubelt zu haben, berichtet: „Und die Leute haben getobt und gerast, sie haben sich in die Hosen gemacht vor Begeisterung, ältere Frauen, geschluchzt, als ob der Heiland kommt.“
Nach vierzig Jahren ist auch das Nachwort Haffners noch lesenswert. Über die Anhängerschaft der NSDAP 1930 bis 1933 schreibt er: „Vier Parteien hielten sich in der steigenden Hitlerflut, die Trutzburgen der SPD und KPD, der katholische Zentrumsturm und das konservative Raubritterschloss der Deutschnationalen.“ Die „innere Emigration“: „man mag darüber denken, wie man will, aber es gab sie.“ Und ein paar Sätze weiter: „Viele Leute nahmen Schutzfarbe an. Und Schutzfarbe hat oft die unangenehme Eigenschaft, auf die Dauer auch nach innen abzufärben.“
Kempowski, schreibt Gauck, „fragte die Menschen nicht, um sie auf die Anklagebank zu setzen, er fragte sie, um sie zu verstehen.“ So sei ein kleines, aber kostbares Archiv vom Stimmen entstanden. Unbestreitbar ist, dass Reue und innere Krise in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht nur bei denjenigen ausblieben, „die Verbrechen begangen hatten oder sie noch im Nachhinein als Pflichterfüllung rechtfertigten“. Es schwiegen und verdrängten auch jene, schreibt der Rostocker Ex-Pfarrer, „die die Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung und ihrem schlechten Gewissen fürchteten“. Dann kam die Revolte von 1968.
Walter Kempowski: „Haben Sie Hitler gesehen? - Haben Sie davon gewusst? Deutsche Antworten“. Mit einem Vorwort von Joachim Gauck, Knaus Verlag, München 2012, 349 Seiten, 19,99 Euro. ISBN 978-3-8135-0481-1
Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.