Kunst zwischen Drama und Selbstsuche
AndreaPreysing 2018
Berlin-Kreuzberg, später Nachmittag. Mit fünf Freundinnen betritt Kerstin Drechsel einen Darkroom – und mit ihrer Kamera. Die Frauen sind allein, das übliche Publikum fehlt. Auf der Homepage beschreibt sich der Club als „Pleasuredome“. Kerstin Drechsel hat etwas anderes vor. „Reenactment“, das schauspielerische Nachstellen von Szenen nennt sie, was sie hier fotografieren wird. Also das Nachstellen von Sex.
Später zeichnet sie die Fotos ab, übermalt sie mehrfach, bis eine samtige, fließende Optik entsteht. Und durch die matt verwaschenen Töne und die sanften Pinselstriche gelingt der 1966 in Reinbek geborenen Künstlerin, was dem Setting nach eigentlich fast unmöglich schien: Sie nimmt dem Pornoclub das Explizite, dem inszenierten Sex die Härte. Ihre Bilder wirken intim und bemerkenwert gelassen.
„Nicht-schwule“ Perspektive
„Lesbisch sehen“ heißt die Schau, in der das Schwule Museum Werke von rund 30 Künstlerinnen und Künstlern zeigt. Die meisten sind Frauen, fast alle homosexuell (oder bi), und alle setzen sich motivisch mit Erotik oder eben Porno zwischen Frauen auseinander. Soviel zum Rahmen.
Aber kann man denn eigentlich lesbisch „sehen“? Oder kann man nur Kunst zeigen von Frauen, die halt lesbisch lieben? Das Schwule Museum spricht von einer „nicht-schwulen“ Perspektive. Soviel zur Verwirrung. Und nicht immer lässt die sich ganz auflösen.
Ziemlich viel Dramatik
Noch muss der feministische Diskurs der Siebziger in einer solchen Schau wohl mitgedacht werden, und mit ihm der Kampf gegen straffe Zuschreibungen von Subjekt- und Objektrollen – und damit ziemlich viel Dramatik. Begriffe wie „Aufbegehren“, „Kampf“ und „Ungerechtigkeit“ finden sich im Begleitheft. Die Rede ist von „einer Kultur, in der ein „male gaze“ die Blickregime fundamental bestimmt“. Der Begriff „male gaze“ kommt dabei aus der feministischen Theorie und bezeichnet eine männliche Perspektive, die Frauen als Objekte wahrnimmt: als Kameramotiv, als Lustobjekt, als Muse, immer aber als passive, den Schaffenden inspirierende Gestalt.
Während es für schwule Bildwelten ausreichend Vorlagen in allen Epochen der Kunstgeschichte gibt, scheint lesbische Kunst immer noch zuvorderst über die Abgrenzung gegen das zu funktionieren, was sie nicht sein will. Ein ausgestelltes SPIEGEL-Titelmotiv aus dem Jahr 1974 betitelt Sex zwischen Frauen als „Die neue Zärtlichkeit“. Die Ausstellung „Great American Art Show“ in Los Angeles rückt lesbische Bildkunst von Frauen sogar erst 1980 in die Öffentlichkeit.
„Weibliche Sexualität muss sich erst noch freimalen“, sagt Simone vom Künstlerinnenduo „Simon und Simone“. Simone trägt Shorts und Muscle-Shirt über dunkel tätowierten Armen. Simon wirkt jungenhaft, verschmitzt. Ihre gemeinsame Fotoarbeit, die zunächst als Kalender herausgegeben worden war, besteht aus teils gerahmten, teils schmucklos an die blanke Wand gehefteten Fotos. Und gerade in ihren Werken wird deutlich: Der englische Titel der Schau, „lesbian visions“, passt eigentlich viel besser.
„Lesbische Weltsicht“ statt nur „lesbisch sehen“
Das Paar inszeniert sich in sadomasochistischen Posen, am Strand, im Gutshaus oder im Garten, halbnackt, mit Kunstblut, Perücken oder Sturmmasken verkleidet. Vor der Kamera sind beide Objekt. Ein Subjekt, einen Fotografen, gibt es bei den mit Selbstauslöser geschossenen Aufnahmen nicht – „sonst würden die auch anders aussehen“, sagt Simon und lacht. Durch ironische Überzeichnung dividieren sie Nacktheit, Porno und Sex auseinander. Dominanzverhältnisse und feministischen Kampf lösen sie in Humor auf. Und wie bei Kerstin Drechsel erzählt gerade der Bruch zwischen Umgebung und Umsetzung eine Geschichte. Gerahmt durch Landschaftsidylle und Vorstadt-Biederkeit vermitteln die sadomasochistischen Accessoires eine alternative Sichtweise, wie Kunst oder Sex oder das Leben eben auch mal sein können: verspielt, ungeordnet, spontan und völlig selbstvergessen.