Kultur

Kultur im Ruhrgebiet: Was die Region so einzigartig macht

Ruhrgebiet und Kultur, das geht für viele immer noch nicht zusammen – trotz der Auszeichnung Essens als Kulturhauptstadt 2010. Dabei ist Ruhrgebietskultur einzigartig und hat Einiges zu bieten. Ein Ortsbesuch bei Kulturschaffenden
von · 19. April 2016

Im Ruhrgebiet ist es grau und dreckig, heißt es. Wenig Grün, industrielle Einöde. Und die einzige Kultur, die es da gibt, ist die sogenannte Industriekultur, die noch ein Hauch der glorreichen Vergangenheit umweht. So zumindest die allgemeine Auffassung. Im Jahr 2010 dann ein kurzes Aufmerken: Da war Essen Kulturhauptstadt. RUHR.2010 nannte sich das und der Rest der Welt merkte plötzlich, dass da kulturell doch was geht, im Pott. Aber was ist das denn genau, diese Ruhrgebietskultur?

Literatur in Dortmund

„Das Ruhrgebiet befindet sich immer noch in einer Phase des Umbruchs. Das alte Ruhrgebiet ist nicht mehr da, alles ist weg – Kohle, Stahl. Jetzt kommt das Neue“, sagt Heinrich Peuckmann. Es ist ein sonniger Tag im März und Peuckmann sitzt im Literaturhaus Dortmund. Peuckmann ist Literat und war bis zur Rente Gymnasiallehrer in Bergkamen – unter anderem auch von Frauke Petry, aber darum soll es jetzt nicht gehen. Peuckmann möchte über die literarische Szene im Ruhrgebiet sprechen, denn da, findet er, gibt es jede Menge zu entdecken: „Dortmund zum Beispiel hat eine reiche literarische Tradition, die sich immer wieder mit der Arbeitswelt auseinandersetzt.“ Und diese Auseinandersetzung findet auch im 2014 eröffneten Literaturhaus statt, der ständigen Vertretung der Dortmunder Literatinnen und Literaten sowie Sitz des Vereins für Literatur. Hier gibt es Autorenstammtische, Veranstaltungen und die Möglichkeit, sich durch Ruhrgebietsliteratur zu lesen.

Der Buchgestalter und -illustrator Klauspeter Sachau leitet die Einrichtung und ist außerdem künstlerischer Leiter des Les.Art Festivals Dortmund. Er erinnert sich an die Vorbereitungsgespräche für RUHR.2010: „Es hieß, das Ruhrgebiet hat literarisch nichts zu bieten.“ Viele Literaturschaffende hätten die Region verlassen und ihr Glück anderswo versucht: „Da wurde uns oft der Eindruck vermittelt: Wenn man hier bleibt, ist das ein Makel.“ Ganz unkritisch sieht Sachau das Ruhrgebiet aber auch nicht, vieles läuft eben tatsächlich nicht ganz rund. Das gilt insbesondere für den Literaturbetrieb. „Es gibt hier keine Verlagskultur“, sagt Sachau, die Region gelte „eher als Problemzone“.

Den Strukturwandel literarisch begleiten

Der Außenseiter-Status des Ruhrgebiets, darin sind sich Heinrich Peuckmann und Klauspeter Sachau einig, hat aber auch Vorteile. „Die Autoren hier rücken dadurch näher zusammen“, stellt Sachau fest. Peuckmann sagt: „Im Ruhrgebiet muss man eben etwas einfallreicher sein als anderswo, wenn man kulturelle Projekte machen will. Dadurch kann man dann auch mal was Überraschendes machen.“ Zuletzt hat er in Kooperation mit dem Dortmunder Flughafen ein Buch mit „Dortmunder Geschichten vom Fliegen“ herausgegeben, als nächstes will er den BVB ansprechen – vielleicht geht da was.

Ja, Fußball ist wichtig im Pott. Aber die Ruhrgebietsliteratur kennt auch andere Themen. Heinrich Peuckmann: „Wir bieten hier literarisch das ganze Spektrum, aber unser Kern, das sind gut erzählte, realistische Geschichten und Krimis.“ Klauspeter Sachau guckt skeptisch: „Da wird jeder was anderes sagen. Aber es ist generell schön, wenn aus der Erfahrung einzelner Autoren wesentliche Beiträge zum Leben in dieser Zeit hinzukommen.“ Und Leben in dieser Zeit, im Ruhrgebiet, bedeutet oftmals Wandel. Man wolle die Phase des Umbruchs künstlerisch begleiten, sagt Peuckmann: „Das ist ein ganz neues Ruhrgebiet.“ So neu dann aber doch wieder nicht, denn laut Peuckmann schimmert das „alte“ Ruhrgebiet an vielen Stellen doch noch durch. So gäbe es in der Region noch so etwas wie Solidarität und dadurch auch ein „relativ einverträgliches Zusammenleben zwischen verschiedenen Kulturen.“ Das sei zwar nicht immer problemlos, aber man habe sich „arrangiert“. Heinrich Peuckmann ist sich sicher: „Wenn der Strukturwandel im Ruhrgebiet funktioniert, dann kommen auch andere Leute hierher.“ Die Literatur aus der Region könne man jedenfalls „guten Gewissens vorzeigen“. Eigentlich gibt es also keinen Grund für das „Minderwertigkeitsgefühl“, das Klauspeter Sachau den Literaten der Region attestiert: „Diese Haltung, sich selber klein zu denken.“

Zähigkeit als Markenzeichen

A propos klein: „Das Ruhrgebiet ist kleiner, als man denkt“, sagt Miriam Michel. Sie sitzt in einem Bochumer Café, mitten im berühmt-berüchtigten Kneipen- und Ausgehviertel „Bermuda Dreieck“. 2008 ist Michel aus dem Saarland ins Ruhrgebiet gezogen, wo sie als Theaterregisseurin und Performance-Künstlerin arbeitet. Natürlich ist das Ruhrgebiet nicht wirklich klein, das meint Michel nicht, sondern: „Die Akteure hier wiederholen sich, man trifft irgendwie doch immer die gleichen Nasen.“ Negativ findet Michel das nicht, allerdings würde sie sich in der kulturellen Szene mehr Durchlässigkeit wünschen – dass eben nicht nur die immer „gleichen Nasen“ die Möglichkeit haben, kulturell etwas auf die Beine zu stellen.

Miriam Michel ist freiberuflich unterwegs, tritt als Solo-Perfomerin auf oder im Kollektiv mit der Gruppe dorisdean. In Hagen leitet Michel die dortige Gruppe von pottfiction, ein Theater- und Kunstprojekt für und mit Jugendlichen und hat am dortigen Stadttheater zuletzt das Kinderstück „Prinz Sternschnuppe“ inszeniert. Das Theater Hagen sieht Michel als gutes Beispiel für die Ruhrgebietsmentalität: „Die Stadt Hagen hat viele Fehler gemacht, das Theater aufs Spiel gesetzt. Aber wir haben einfach weiter gemacht. Diese Zähigkeit, die sehe ich auch in der Kunst hier.“ Generell würden Künstler im Ruhrgebiet sich stark mit der Region auseinandersetzen. Dazu gehören auch Themen wie Rassismus und der politische Rechtsruck, insbesondere in Dortmund. „Natürlich sind das hier Probleme“, sagt Michel, „aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass das Ruhrgebiet an manchen Stellen gesellschaftlich schneller reagiert als andere Orte.“ Man habe sich einfach an einen gewissen „positiven Ausnahmezustand“ gewöhnt, daran, dass eben nicht immer alles so läuft, wie man das geplant hat. Michel: „Das lässt weniger Raum für konservative Panikmache.“ Insgesamt, findet die Künstlerin, sei das Ruhrgebiet für sie ein guter Ort: „Ich durfte hier immer einfach vor mich hinprökeln, mein Ding machen. Das Ruhrgebiet ist für mich ein angstfreier Ort, sowohl künstlerisch als auch menschlich.“ Sie lacht. „Und irgendwie ist das Ruhrgebiet dann doch größer als man denkt.“

Fortsetzung des Volunteer-Programms nach Ruhr2010

Trotzdem: Im Pott ist alles näher beieinander als anderswo. Bochum grenzt im Westen an Essen, von Hauptbahnhof zu Hauptbahnhof dauert die Bahnfahrt gerade mal 15 Minuten. Mitten in der Essener Innenstadt befindet sich das Unperfekthaus, hier trifft sich die Kreativszene und auch die RuhrVOLUNTEERs haben hier ihren Stammtisch. Elmar Brückner, Martina David und Sascha Kaufmann sind nur drei der zahlreichen Freiwilligen, die regelmäßig im ganzen Ruhrgebiet im Einsatz sind. „Wir wollen niemandem die Arbeit wegnehmen, sondern die Leute unterstützen“, erklärt Martina David, Vorsitzende von ruhrVOLUNTEERs e.V. Der Verein entstand durch RUHR.2010: Damals halfen tausende von Freiwilligen mit, die Veranstaltungen durchzuführen – zum Beispiel die Aktion „SchachtZeichen“ oder das „Still-Leben Ruhrschnellweg“, als die A40 für motorisierten Verkehr gesperrt und für Besucher freigegeben wurde. Dann war es mit der Kulturhauptstadt vorbei, und die Nachfolgeorganisationen von RUHR.2010 sahen sich nicht in der Lage, das Volunteers-Programm weiterzuführen. Anfragen an die Volunteers kamen aber trotzdem noch. Der Bedarf sei da gewesen, sagt Martina David, also habe man im Juni 2012 RuhrVOLUNTEERs e.V. gegründet.

55 Mitglieder hat der Verein heute. Einige machen nur ein bis zwei Einsätze im Jahr, andere ein bis zwei im Monat. Wie genau sieht denn so ein Einsatz aus? Laut Elmar Brückner arbeiten er und die anderen „vor, hinter und auf der Bühne“. Das geht von der Büroorganisation über die Künstlerbetreuung bis zum Kartenabreißen. Manchmal sind die Veranstaltungen spektakulär, so wie die „Extraschicht“. Oft sind sie aber auch klein und könnten ohne die Hilfe der Volunteers gar nicht stattfinden. Seit der Loveparade in Duisburg 2010, bei der 21 Besucher starben, sind im ganzen Ruhrgebiet die Sicherheitsvorschriften für öffentliche Veranstaltungen extrem verschärft worden. Das ist vor allem für kleinere Veranstaltungen ein Problem. „Im Idealfall machen wir die Veranstaltungen möglich“, sagt Brückner. Sascha Kaufmann ergänzt: „Wenn wir wirklich einen Unterschied machen, dann macht mir der Einsatz besonders Spaß.“

Anstieg des Tourismus im Ruhrgebiet

Einen Unterschied hat auch RUHR.2010 gemacht.  „Die Menschen außerhalb des Ruhrgebiets haben endlich gesehen: Es ist ja nicht nur Grau hier“, erinnert sich Martina David. Statistiken würden zeigen, dass der Tourismus im Ruhrgebiet seit 2010 zugenommen habe. Allerdings: „Aus der Kulturhauptstadt ist keine Metropole entstanden.“ Kulturell macht jetzt jede der 53 Städte wieder ihr eigenes Ding. Elmar Brückner: „Man wollte unbedingt Nachhaltigkeit, aber das hat so nicht funktioniert.“ Die Ruhrgebietsbewohner selbst sähen das aber nicht so eng, sagt Martina David: „Das ist ja das Schöne am Ruhrgebiet. Die Leute hier fahren eben auch mal in eine andere Stadt, um da Kultur zu erleben.“

Sprich, in den Köpfen der Menschen ist der Pott längst eine Metropole, und zwar eine mit jeder Menge kultureller Vielfalt. Das muss der Rest Deutschlands zwar noch lernen, aber ganz schlechte Voraussetzungen hat RUHR.2010 dafür offenbar nicht geschaffen. Und auch, wenn man im Pott gerne sagt „Ach komm, geh wech“: Geht es um Kultur, sind Besucher hochwillkommen. Komm se rein, können se rausgucken – und sehen, dass nicht alles Grau ist, was Ruhrgebiet heißt.

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