Kritik an Jury-Entscheidung: Warum das Pressefoto des Jahres 2016 umstritten ist
Es sind zwei Bilder, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Auf dem einen steht ein Mann in Siegerpose, den Mund aufgerissen, den Zeigefinger in die Luft gereckt, die Pistole noch in der Hand, neben ihm der leblose Körper seines Opfers, des russischen Botschafters Andrey Karlov. Auf dem anderen steht eine junge Afroamerikanerin im fließenden Sommerkleid vor zwei schwerbewaffneten Polizisten, hoch aufgerichtet und würdevoll, ohne Waffe, die Hände zur Festnahme ausgestreckt.
Umstrittene Jury-Entscheidung
Beide Fotos zeigen Momente der Auseinandersetzung, des Konflikts – und die Arten, wie Menschen damit umgehen. Der Türke Mevlut Mert Altinas wird zum Mörder, um Aufmerksamkeit für das zu bekommen, was ihm wichtig ist: „Vergesst Aleppo nicht. Vergesst Syrien nicht“, sagt er, nachdem er Karlov bei einer Ausstellungseröffnung in Ankara im Dezember 2016 erschossen hat. Die junge Frau im Sommerkleid, Ieshia Evans, stellt sich der Gewalt in ihrem Land mit nichts anderem als ihrer eigenen Person entgegen: Sie ist nach Baton Rouge im US-Bundesstaat Louisiana gereist, um dort friedlich gegen die Polizeigewalt gegen Afroamerikanern zu protestieren, gegen den Tod von Alton Sterling, der am 5. Juli 2016 von weißen Polizisten erschossen wurde.
Der triumphierende Mörder und die friedliche Demonstrantin, sie sind zu Symbolfiguren des vergangenen Jahres geworden. Der türkische Fotograf Burhan Ozbilici wurde für sein Foto von Mevlut Mert Altinas mit dem Preis „World Press Photo of the Year“ ausgezeichnet, der US-Amerikaner Jonathan Bachman gewann mit dem Foto von Ieshia Evans in der Rubrik „Contemporary issues, singles“.
Jedes Jahr vergibt die World Press Photo Foundation in zahlreichen Kategorien Preise für die besten Pressefotografien, über die Preisträger entscheidet eine unabhängige Jury. Deren Entscheidung war in diesem Jahr nicht unumstritten, auch innerhalb der Jury selbst gab es Streit um die Entscheidung für Burhan Ozbilici. Der Freundeskreis Willy-Brandt-Haus, der die World Press Photo-Wanderausstellung auch dieses Jahr ins Berliner Willy-Brandt-Haus geholt hat, entschied sich deshalb bewusst dafür, die Ausstellung nicht mit Ozbilics Foto zu bewerben – sondern mit dem Bachmans.
Siegerfoto ist „falsche Wahl“
Warum? Das führte Peter-Matthias Gaede, Journalist und ehemaliger Chefredakteur des Magazins „GEO“, in seiner Ansprache bei der Ausstellungseröffnung am 1. Juni aus. Ja, wir befänden uns in einer „Zeit des Hasses“. Trotzdem sei das Bild „die falsche Wahl“. Es würde, so Gaede, in die Ikonographie des sogenannten „Islamischen Staats“ passen, würde „Blood-sweat-and-tear-Reflexe“ bedienen. Dies wollte Gaede aber ausdrücklich nicht als Vorwurf an den Fotografen Burhan Ozbilici verstanden wissen, der nichts anderes getan habe, als seinen Job zu machen: Er war vor Ort, er drückte ab. Nein, Gaede geht es um die Entscheidung der Jury: „Das Weltpressefoto des Jahres gilt immer als eine Art Symbolbild unserer Zeit – warum muss es ein Bild des Todes sein? Warum müssen wir zu den Protagonisten unserer Zeit die Mörder machen?“ Im Publikum gab es dafür viel Applaus und zustimmendes Nicken.
Eigentlich hätte zur Ausstellungseröffnung nach Berlin auch Walid Mashhadi anreisen sollen: Der Syrer begann mit 18 Jahren, Fotos zu machen, um den Krieg in seinem Heimatland für den Rest der Welt festzuhalten. Dafür wurde er 2016 mit dem zweiten Preis in der Kategorie „Spot News, stories“ beim World Press Photo Award ausgezeichnet. Mittlerweile lebt der Fotograf in Paris. Für die Ausreise nach Deutschland, um dort an der Ausstellungseröffnung teilzunehmen, erhielt er keine Genehmigung.
Arbeiten in Konfliktregionen
Für Mashhadis Abwesenheit entschädigten bei der Vernissage Hosam Katan und Samar Hazboun: Ersterer arbeitet vor seiner Flucht nach Deutschland ebenfalls als Kriegsfotograf in Syrien, zweitere stammt aus Jerusalem und setzt sich in ihrer Arbeit vor allem mit der Situation von Frauen in Palästina auseinander. Die beiden Fotografen sind zwar nicht mit Arbeiten in der World Press Photo-Ausstellung vertreten, aber sie berichteten anschaulich aus ihrer eigenen Erfahrung in Konfliktregionen. „Du tust, was du tun musst“, sagte Katan. „Ich habe mich dazu entschlossen, diesen Job zu machen, und ich mache ihn weiter.“
Es gäbe eine Verantwortlichkeit, zu zeigen, was in bestimmten Regionen der Welt passiert. Hazboun ist trotzdem skeptisch, was die Macht der Bilder angeht: „Bilder alleine verändern nicht die Welt. Es kommt darauf an, wie wir sie benutzen. Deshalb ist Kontext so wichtig, ein erklärender Text – denn Bilder können sehr schnell aus dem Kontext gerissen werden.“
Aus rund 80.408 Fotos von 5.034 Fotografen aus 125 Ländern hat die Jury die Sieger des diesjährigen Wettbewerbs ausgewählt. Die in der Ausstellung präsentierten Arbeiten zeigen viel Leid und Elend – das zerstörte Aleppo, Flüchtlinge bei ihrem Weg über das Mittelmeer. Aber auch stille Momente aus dem Alltag von Menschen weltweit, aus dem Iran, aus Kuba, aus den USA sowie beeindruckende Natur- und Sportfotografien. Trotzdem, der Eindruck bleibt: 2016 war ein schwieriges Jahr, ein Jahr, in dem zu viele Menschen ihr Leben verloren, ein Jahr, in dem die ganze Welt ein Brennpunkt zu sein schien. Dafür steht symbolisch Mevlut Mert Altinas – aber auch Ieshia Evans.
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