Als Kind durchpflügte ich die kleine Bibliothek meiner Eltern, belagerte und stürmte die Volksbücherei und legte mir eine eigene Buchsammlung zu. Geschenkt, aber auch geraubt. Ich verleibte mir die Bücher meines Bruders ein, strich seinen Vornamen durch, setzte rigoros meinen darüber und nummerierte durch.
Rudyard Kiplings Dschungelbuch, das mir meine Eltern zum achten Geburtstag schenkten, mit Widmung in der klaren Schrift - mit Anflügen von Sütterlin - meiner Mutter, war die Nummer 4 in meinem Bestandskatalog und auch der dritte Band der gerade ins Leben gerufenen rororo Taschenbücher. Es ist heut noch in meinem Besitz und der zerknitterte Pappband, mittlerweile mit Rissen wie auf den Bildern der alten Meister überzogen, zeigt dennoch unverkennbar das Bild des jungen Mowgli mit Baghira dem Panther und der züngelnden Schlange Kaa. Eine kleine Broschüre, aber welch ein Gegenstand! Teil von mir, als wären die Urwaldlianen in und durch mich gewuchert, vor allem die Geschichte von der weißen Robbe, von Kotick, dem Robbenmoses, der sein Volk an einen friedlichen und sicheren Ort führte.
Jeder der Knicke bedeutet einen Handgriff, ein kürzeres oder längeres Liebäugeln mit dem Text, kann aber auch ein Umzugsmalheur bedeuten, immer wieder eingepackt, ausgepackt beim Zug durchs
Leben und durch die Welt. Immer dabei, nicht der einzige Begleiter - da wären noch viele zu nennen -, aber ein wichtiger, aus den Tagen der Kindheit. Nun, die Vorlieben wechseln, verschwinden,
kehren wieder zurück und manches, was als Ballast beinahe abgeworfen worden wäre, erhält erneut Substanz und vice versa.
Ich habe aus dem Dschungelbuch in einer angeblich schwierigen Gegend der alten saarländischen Industriestadt Neunkirchen vorgelesen. Etwa 60 bunt gescheckte Kinder, zwischen vier und 12
Jahre alt, saßen im Halbkreis um mich herum und folgten atemlos der Geschichte vom Kotick, der Geschichte von der weißen Robbe, die so anders als ihre Brüder und Schwestern aussah. Das Buch
schmiegte sich in meine Hand, froh wieder zur Kenntnis genommen zu werden - und gleich von so vielen Kindern, die mit großen dunklen Augen das Umblättern der Seiten verfolgten, und es lernte auf
diese Weise Menschen mit den Haut- und Haarfarben kennen, die auf seinen Seiten nur beschrieben waren. Vielleicht tauchten einige aus meinem Publikum ab, dösten oder verloren sich neben der
Geschichte, aber in vielen Gesichtern sah ich, wie sich vor ihren Augen Schneelandschaften und die weiten Meere öffneten.
Die videoverwöhnten Augen holten die Bilder von Robben, Seevögeln und Fischen in den engen Raum und in den Mienen las ich das Erschrecken über das Treiben der Pelzjäger. Nach der Lesung kamen
einige zögernd, aber von Neugier getrieben heran, um diesen wunderbaren Gegenstand zu begutachten und ich sagte ihnen: das ist ein Buch. In den bedruckten Seiten findet ihr die Geschichte von
Kotick und dem Robbenvolk, und noch viel, viel mehr.
war von 1998 bis 1999 Ministerpräsident des Saarlandes und von 1999 bis 2000 Bundesminister für Verkehr, Bau und Wohnungswesen.