Kultur

„Kolyma“: Schräger Trip auf der „Straße der Knochen“

Von Gulag bis Gulasch: Der Dokumentarfilm „Kolyma“ erzählt von den mitunter skurrilen Weisen, wie Menschen im Schatten einer mörderischen Vergangenheit leben.
von ohne Autor · 26. Juni 2018

Kurz vor dem Tor zur Hölle gibt es Hotdog und Pizza. Dort, am Fenster einer Fast-Food-Bude entspinnt sich eine Unterhaltung. „Sie wissen wirklich nicht, was Gulag bedeutet?“, fragt ein Mann die junge Bedienung. „Was meinen Sie? Gulasch?“, antwortet sie. Skurril? Unfassbar? Oder einfach nur komisch? Diese Frage stellt man sich während so mancher Szene in „Kolyma“.

Die gleichnamige Region im Fernen Osten Russlands steht wie kaum eine andere für das sowjetische Lagersystem. Bis in die 80er-Jahre hinein mussten dort Tausende von Menschen Uran, Gold und andere Bodenschätze unter mörderischen Bedingungen abbauen. Am Hafen von Magadan, jenem „Tor zur Hölle“, landeten die Schiffe mit den Zwangsarbeitern an. Von dort wurden sie bis zu den Lagern am Oberlauf des Flusses Kolyma - dieser gibt der Gegend seinen Namen - getrieben. Der sowjetische Autor Warlam Schalamow verewigte seine Erlebnisse in diesem Teil des Gulag-Systems in seinen „Erzählungen aus Kolyma“. Dort, wo sich unter Stalin auch deutsche Kriegsgefangene zu Tode schufteten oder an Hunger und Kälte verreckten, kurven heute Autos und Laster auf eine holperigen Piste herum: Nach mehr als 2000 Kilometern endet die „Straße der Knochen“ in Jakutsk, der kältesten Stadt der Welt.

Grausame Geschichte

Der polnische Dokumentarfilmer Stanislaw Mucha durchmaß diese Strecke von Anfang bis Ende. Einerseits, um sich auf die Spur seines Großvaters zu begeben, dessen Weg sich mit dem von Schalamow in dem berüchtigten, wenngleich von einer imposanten Natur geprägten Landstrich gekreuzt hat. Vor allem aber, um zu ergründen, wie die Menschen nicht nur mit dieser grausamen Geschichte, sondern auch damit zurechtkommen, weitgehend sich selbst überlassen zu werden. Vorausgesetzt, die Goldlieferungen nach Moskau reißen nicht ab. Welche Hoffnungen und Träume haben diese Menschen am Ende der Welt? Was belastet sie?

Für den Film „Tristia“ hat Mucha vor einigen Jahren verschiedene Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres bereist. Schon damals war ihm eine atmosphärisch dichte Synthese aus skurrilen Situationen und schweren Schicksalen gelungen, die einen Bogen vom historischen Erbe der Sowjetunion bis hin zu einer wenig verheißungsvollen Zukunft schlägt. Das gilt auch für „Kolyma“, wenngleich die einzelnen Episoden vor dem Hintergrund der extremen, immer wieder in poetischen Bildern eingefangenen Außenwelt eine gänzlich andere Wirkung entfalten. Sei es der Armeeveteran, der im Laufe seines Lebens alles und jeden verloren hat und nun einsam in einer klapprigen Garage haust. Oder Teenager, die für die Schule ein ebenso beklopptes wie martialisches Musical proben. Nicht zu vergessen ein selbsternannter Wunderheiler, der behauptet, mit Stromstößen das Rezept für Verjüngungskuren entdeckt zu haben.

Vielerlei Farben

Mucha macht aus all dem allerdings keine Reise nach Absurdistan. Vielmehr wird deutlich, welche Färbungen das Leben in Ostsibirien von den 1930er-Jahren bis heute hervorgebracht hat. Zwischen profan und durchgeknallt ist alles drin. Jeder hat seine ganz eigenen Sehnsüchte und die können auch in dem offen formulierten Wunsch gipfeln: bloß weg hier! Dazwischen finden sich immer wieder Zeitzeugenberichte über die Brutalität des Lageralltags. Die Weisheit „Wer überleben wollte, musste töten“ gewinnt darin ein besonderes und bedrückendes Gewicht.

„Kolyma“ ist indes keine klassische Dokumentation über die Folgen des Gulag-Systems. Wohl aber ist einiges darüber zu erfahren, wie eine Gesellschaft mit einer schwierigen – und im Falle Russlands bis heute kaum aufgearbeiteten – Vergangenheit lebt. Mucha macht das mit einem gleichermaßen unterhaltsamen wie berührenden Kaleidoskop deutlich. Seine Perspektive reicht weit über das System Putin, das längst wieder autoritäre Tugenden der Vergangenheit hochhält, hinaus. „Ist nicht ganz Europa auf Knochen gebaut?“, fragt einer seiner Gesprächspartner.

„Kolyma“ (Deutschland 2017 ), ein Film von Stanislaw Mucha, 85 Minuten. Kinostart: 21. Juni 2018

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