Sie waren wirkliche Freunde der Kinder. Sozialdemokratische Frauen, Volksschullehrer und Jugendliche stellten den Großteil der Helfer und ermöglichten Arbeiterkindern selbst bestimmte
Freiräume. In den Gruppen und Zeltlagern konnten sie ihre Vorstellungen einbringen und gemeinschaftlich ihre Ideen verwirklichen. Ziel war es, dass benachteiligte Kinder zu selbstbewussten,
lernbegierigen und aktiven Mitstreitern für eine demokratische und sozialistische Gesellschaft heranwuchsen.
Die Wurzeln
In ihrer Arbeit griffen die Kinderfreunde auf unterschiedliche Quellen und Traditionen zurück. Sie machten sich die zeitgenössischen reformpädagogischen Diskussionen zu nutze, nahmen die
vorhandenen Ansätze von polytechnischer Bildung, Gemeinschaftserziehung und Demokratieförderung auf und versahen sie mit sozialistischem Vorzeichen. Andere Quellen ihres Wirkens waren die
bildungspolitischen Vorstellungen der SPD und der Kampf der Arbeiterbewegung für den Kinderschutz. Nicht zuletzt das Beispiel der bereits 1908 gegründeten österreichischen Kinderfreunde
beeinflusste die Arbeit der jungen Bewegung. Gemeinsame Tagungen, gegenseitige Besuche und Vortragsreisen der führenden österreichischen Theoretiker halfen den deutschen Kinderfreunden weiter.
Der Sammelband beschreibt in neun Regionalstudien, welche unterschiedlichen Gruppen sich 1923 zu einer Reichsarbeitsgemeinschaft vereinigten: Kinderschutzkommissionen der Partei,
Kindergruppen der Sozialistischen Arbeiterjugend, Kinderbetreuungsangebote der Arbeiterwohlfahrt und unabhängige Gruppen schlossen sich nach und nach der neuen Organisation an. Die Arbeit vor Ort
war durchaus unterschiedlich geprägt. Standen die Braunschweiger Kinderfreunde in der Tradition des "Wandervogels", sorgten sich die Münchner um den Kinderschutz. Sie thematisierten dabei auch das
mangelhafte Erziehungsverhalten vieler eigener Genossen. Bei den Nürnberger Gruppen hatte die politische Bildung einen hohen Stellenwert. Die Essener und Leipziger engagierten sich unter anderem
für eine freie, weltliche Schule.
Vordenker Löwenstein
Untrennbar verbunden mit dem Erfolg der Kinderfreundebewegung ist ihr Vorsitzender und Motor Kurt Löwenstein. Ein biografischer Beitrag beschreibt seinen Einsatz für ein sozialistisches
Schulwesen, das schon kurz nach der Gründung der Weimarer Republik an den Mehrheitsverhältnissen im Reichstag scheiterte. Daraufhin suchte sich der Pädagoge andere Betätigungsfelder: Als Schulrat
im Berliner Bezirk Neukölln schuf er eine Reihe von modellhaften Einrichtungen für Arbeiterkinder. Zusätzlich engagierte er sich in der Kinderfreundebewegung. Ab 1924 stand sie unter seiner
Leitung. Hier förderte er die Erziehung der Kinder zum "Bauvolk der werdenden Gesellschaft". Nicht das Studium der Lehren von Marx oder das Nachplappern der Parolen der Erwachsenen, sondern durch
die Praxis in solidarischen Kindergemeinschaften sollten Grundsteine für den Kampf gelegt werden, das Kind zum Träger der werdenden Gesellschaft heranwachsen. Nach seiner Flucht vor den Nazis
leitete Löwenstein die internationale Falkenbewegung. Er unterstützte den Aufbau von Schwesterorganisationen in den freien Ländern Europas.
Das Buch vereint eine Fülle von Details über die Gründungsphase der Kinderfreunde und regt zur weiteren Beschäftigung mit dieser erfolgreichen Bewegung an. Es setzt allerdings Grundkenntnisse
über die sozialdemokratische Bewegung im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts voraus. Die große Forschungslücke über diese Kinderorganisation ist nun ein kleines Stück geschlossen worden.
Boris Kuhn
Roland Gröschel (Hrsg.): Auf dem Weg zu einer sozialistischen Erziehung. Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte der sozialdemokratischen "Kinderfreunde in der Weimarer Republik, Klartext
Verlag, Essen 2006, 358 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 19,90 Euro, ISBN 3-89861-650-9
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