Kind 44: Tabubruch im Land des Glücks
Wenn Mordtaten von der Propaganda als allein kapitalistische Krankheiten verkauft werden, hat jeder, der sich um eine Aufklärung solcher Fälle bemüht, ein Problem. Aufklärung bedeutet Auflehnung. Diese Erfahrung macht auch der hochdekorierte Kriegsheld und Geheimdienstoffizier Leo Demidow (Tom Hardy). Jahrelang verhört und foltert er sogenannte Volksfeinde, ohne sich oder das System infrage zu stellen. Doch als seine Frau Raissa (Naomi Rapace) durch die Denunziation eines Todgeweihten ins Visier des allmächtigen Ministeriums für Staatssicherheit (MGB) gerät und er selbst gegen sie vorgehen soll, bekommt sein Weltbild Risse. Hinzu kommt, dass Leos Patenkind tot an einem Moskauer Bahngleis entdeckt wird. Alles deutet auf ein Gewaltverbrechen hin, dennoch nötigt ihn der Vorgesetzte, dem Freund und Kollegen das Ganze als Unfall zu verkaufen. Leo ermittelt auf eigene Faust. Und bringt damit eine Entwicklung mit unabsehbaren Folge ins Rollen. Mit Raissa wird er in ein Dreckloch in der Provinz verbannt. Dort trifft er auf den desillusionierten Milizgeneral Nesterow (Gary Oldman). Und weitere Kinder sterben. Leo, Raissa und der General machen sich daran, die Mordserie aufzuklären, wohl wissend, dass sie beobachtet werden. Dass Leos sadistischer Kollege Wassili, der in der Moskauer Geheimdienstzentrale seinen Platz eingenommen hat, mit ihm noch eine ganz andere Rechnung offen hat, macht die Sache umso gefährlicher.
Finsterer Bombast
„Kind 44“ ist die Verfilmung des gleichnamigen Krimi-Bestsellers von Tom Rob Smith. Der Produzent Ridley Scott soll von dem Roman so angetan gewesen sein, dass er die Kino-Adaption selbst vom Regiestuhl aus übernehmen wollte. Diese Aufgabe übernahm schließlich der Schwede Daniel Espinosa („Safe House“). Doch darf vermutet werden, dass Scott, der mit dem finsteren Bombast von „Alien“ oder „Gladiator“ einst als Regisseur Maßstäbe setzte, beim Bild- und Sounddesign kräftig mitgemischt hat. Wie auch immer: Die klaustrophobischen Bilder in ihren matten und dunklen Tönen entwickeln einen ganz eigenen Sog. Leuchtende Farben bleiben weitgehend außen vor. Ob in der gediegenen Hauptstadtwohnung oder in der versifften Siedlung hinterm Stahlwerk: Stets herrscht gedämpftes Licht und die Menschen laufen in abgetragenen Uniformen oder Mänteln umher. Wer will im Reich der Wachsamen schon auffallen? Nur selten öffnet sich dem Auge die Weite des Raumes.
Dass der Spannungspegel bis zum Schluss ganz oben bleibt, liegt aber auch am Drehbuch. Eine Wirkung, die angesichts einiger dramaturgischer Fragwürdigkeiten schon fast erstaunlich ist. Während sich einige Rätsel mit der Zeit entwirren, kommen neue hinzu. Zumal sich zwischen Raissa und Leo eine ganz besondere Dynamik entwickelt, deren Ursprung weit hinter der Denunziation liegt. Auch Leos Vergangenheit fordert irgendwann ihren Tribut. In den 1930er-Jahren überlebte er als Waisenjunge mit Mühe und Not die von Stalins Regime forcierte Hungersnot in der Ukraine. Dieser Selbsterhaltungstrieb konnte brutale Konsequenzen haben. So erzählt der Film auch von den Häutungen nicht nur dieser Menschen, die unter derlei extremen Bedingungen keine Seltenheit waren – schließlich ging es darum, sich durchzuschlagen.
Packender Wahrheitsdrang
Sicherlich hätte Espinosa die inneren Widersprüche der Hauptfiguren sauberer herausarbeiten können. Zwar beweist Rapace wieder einmal ihre enorme Verwandlungsfähigkeit. Gemeinsam mit Hardy liefert sie eine darstellerische Leistung ab, die auch von vollem Körpereinsatz lebt – ob auf der Flucht oder beim Kampf im Schlamm. Doch Leos innere Widersprüche und die psychologische Last, die er seit seiner Kindheit mit sich herumschleppt, werden nur an der Oberfläche berührt. Und doch ist seine Suche nach der einen Wahrheit, gerade während der vielen Rückschläge, ein packendes Erlebnis. Auch, weil wir den Ausgestoßenen weitgehend ratlos von Schauplatz zu Schauplatz nachjagen und mit einigen überraschenden Wendungen konfrontiert werden.
Gary Oldman wiederum bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück, zumal das Drehbuch den General zwischenzeitlich abtauchen lässt – unterm Strich ist sein Part gänzlich verschenkt. Auch sollte man nicht davon ausgehen, ein allzu subtiles Bild vom Alltag in der UdSSR vermittelt zu bekommen, selbst wenn sich die Idee zum Roman an einer tatsächlichen Mordserie in dem Riesenreich, allerdings in den späten 1970er-Jahren, entsponnen hatte. Ganz zu schweigen von einer möglichen Kommentierung der Verhältnisse unter Putin. Das russische Kulturministerium sah das offenbar anders und ließ den Film kurz vor dem Kinostart für unabsehbare Zeit verbieten.
Einen quasi-dokumentarischen oder gesellschaftskritischen Anspruch hatten Espinosa und Co., trotz der Liebe zum Detail bei Kostüm und Ausstattung, ohnehin nicht. Ihnen ging es offenkundig eher darum, zu erzählen, wie sich Terror und Willkür, unter wessen Ägide auch immer, gegen einen der Täter wendet. Und was es heißt, in einem totalitären System der Realitätsverweigerung für nichts als Fakten zu kämpfen. Das alles freilich in einem, allerdings vergleichsweise anspruchsvollen, Blockbuster-Gewand. Mögen dessen Stärken und Schwächen letztlich auch das Klaustrophobische und Düstere gefügig machen.
Info:
Kind 44 (USA 2014), ein Film von Daniel Espinosa (Regie) und Richard Price (Drehbuch), mit Tom Hardy, Naomi Rapace, Gary Oldman, Vincent Cassel u.a., 137 Minuten.
Ab sofort im Kino