Kein Bock auf Betonköpfe
Die Lebenswirklichkeiten im multikulturellen Frankreich haben sich spätestens seit Komödien wie „Monsieur Claude und seine Töchter“ als massentauglicher Kinostoff entpuppt. In „Bande de filles“ geht Regisseurin Céline Sciamma den entgegengesetzten Weg: Anstatt sich mit Vorurteilen und Verwerfungen zwischen der sogenannten Mehrheitsgesellschaft und den Minderheiten zu befassen, pickt sie sich eine Gruppe heraus und betrachtet sie als weitgehend isolierte Einheit: nämlich die dunkelhäutigen Bewohner eines Pariser Wohnsilos ganz weit draußen.
Genauer gesagt: Junge Frauen, die in einem von Machotum und Perspektivlosigkeit geprägten Mikrokosmos versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen. Im Mittelpunkt steht die 16-jährige Marieme. Mit ihrer schwer malochenden Mutter, dem autoritären Bruder und den innig geliebten Schwestern lebt sie in einem der Wohnklötze. Sie weiß: Ohne die weiterführende Schule zu besuchen, wird sie dieser in vieler Weise bedrückenden Enge nie entkommen. Als dieser Plan endgültig scheitert, ist es wie ein Weckruf. „Ich will so sein wie die anderen“, sagt sie zu ihrer Lehrerin. „Normal.“ Was immer das heißen mag.
Marieme beschließt, sich ab jetzt von niemandem mehr unterbuttern zu lassen und sich zu nehmen, was die will. Und das geht in dieser Banlieue am besten in einer Gang. Nach einigen Kraftproben gewinnt sie dort tatsächlich einen neuen Blick auf sich und ihr Leben. Das bleibt nicht ohne Folgen. Die Dreadlocks kommen weg, ab jetzt trägt sie, ebenso wie Lady, Adiatou und Fily die Haare glatt. Und nennt sich draußen, wenn sie mit den Mädels abhängt oder in Klamottenläden klauen geht, nur noch „Vic“. Den lästigen Unterricht endlich los zu sein und Prügeleien mit anderen Mädchenbanden stärken ebenfalls das Selbstbewusstsein.
Doch nicht jede neue Freiheit ist so harmlos wie derlei Amüsement. Nach einigen überraschenden Wendungen steht sie vor der Entscheidung, in das alte Leben unter der Fuchtel des großen Bruders zurückzukehren oder sich auf neue Chancen und Risiken außerhalb des Reichs dieses und anderer Betonköpfe einzulassen.
Soziale Begrenzungen
Die Konstruktion von weiblicher Identität innerhalb von sozialen Begrenzungen und Tabus sowie die spielerische Auseinandersetzung mit Außenwahrnehmung und Identität prägen seit jeher Sciammas Arbeit. Diesem Wechselspiel sind auch Marieme und ihre neuen Freundinnen ausgesetzt. Während sie es mit dem Geld, das sie anderen Mädchen abgenommen haben, im Hotelzimmer ordentlich krachen lassen und sich der Traum von der Eigenständigkeit verdammt echt anfühlt, werden sie von Vätern und Brüdern immer wieder brutal zurechtgestutzt und daran erinnert, sich „nicht wie eine Nutte“ zu benehmen. Auch manchem männlichen Verbündeten ist nicht zu trauen. So bleibt es den Heranwachsenden überlassen, sich mit dem Glauben an sich selbst und einem langem Atem nicht vom Weg abbringen zu lassen, wohin er auch führen mag.
Die Regisseurin gibt Marieme reichlich Zeit,sich zu entwickeln: vom geduckten Kind zu einer jungen Frau, die um Selbstbewusstsein ringt. Während die äußerlichen Veränderungen nicht zu übersehen sind, offenbart sich ihr psychisches Innenleben nur bedingt, wenngleich ihre inneren Kämpfe – auch zwischen der Rolle als gute Tochter und Schwester, als Bandenmitglied und als Einzelkämpferin – stets nach außen dringen. Als wären die „gewöhnlichen“ Nöte einer „normalen“ Teenagerin nicht schon genug!
Hauptdarstellerin Karidja Touré meistert dieses Spagat mit Bravour und hält ihre Figur in ständiger Schwebe, wodurch der Zuschauer ihre Entwicklung bis zum Schluss gespannt, häufig auch gebannt, verfolgt. Eine darstellerische Leistung, die unter diesen Umständen nicht selbstverständlich ist: Touré wurde, wie auch die anderen jungen Frauen, als Laienschauspielerin gecastet.
Moralisch fragwürdig
Das passt ins Konzept: Die 1978 geborene Regisseurin versteht ihren Film als ein Porträt jener Mädchengruppen-Generation, die ihr tagtäglich in den Einkaufszentren oder Bahnhöfen der französischen Hauptstadt begegnen. Doch „Bande de filles“ hält es nicht nur mit realistischen Ansätzen. Das Farbkonzept setzt Marieme und die anderen sprichwörtlich in ein eigenes Licht. Mit ihren grellen Outfits von ihrer eher blassen Umgebung ab. Hinzu kommen die immer wiederkehrenden Blau- und Türkistöne der im Studio gestalteten Innenräume. Gemeinsam mit dichten elektronischen Sounds ergibt sich ein intensives Netz aus Eindrücken. Anstelle der in Dramen in sozialen Krisengebieten sonst so beliebten Handkamera dominieren statische Aufnahmen, mitunter als üppiges Panorama. So erscheint die vielgeschmähte französische Neubauszenerie nicht gerade als Idyll, aber doch als Ort von Perspektiven, die man nur erkennen und ergreifen muss, mögen sie sich auch fragwürdig sein.
Info:
Bande de filles (Frankreich 2014), ein Film von Céline Sciamma, mit Karidja Touré, Assa Sylla, Lindsay Karamoh u.a., 112 Minuten, OmU
Ab sofort im Kino