Er war ein konzentrierter und neugieriger Zuhörer. Er war ein genauer Beobachter und er war ein feiner Mann. Jürgen Leinemann ist tot. In der Nacht zum Sonntag ist er gestorben mit 76 Jahren.
In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gehörte er zu den wenigen großen Journalisten in Deutschland. Nachdenklich und unabhängig. Aufrichtig: „Nie darf ein Zweifel daran bestehen, dass ich als Reporter verantwortlich bin für die Realität, die ich mit meiner Geschichte schaffe. Keinen Augenblick behaupte ich: So ist es. Ich sage nur, so sehe ich es.“
Heuchlerisch und naiv sei es, meinte er, anzunehmen, Journalismus könne objektiv sein. Nun ist er tot, dieser große Reporter und Chronist, der über den Tod in seinem Buch „Das Leben ist ein Ernstfall“ geschrieben hat: „Ich denke mir Totsein wie schlafen, allerdings ohne Träume.“
Jürgen Leinemann wird zwei Jahre vor dem Überfall des deutschen Reiches auf Polen, 1937 in Celle geboren. Er geht in Lehrte aufs Gymnasium. Studiert Germanistik, Geschichte und Philosophie, arbeitet danach bei der Deutschen Presseagentur in Berlin, Hamburg und Washington und wechselt Anfang der 70ger Jahre zum Magazin Der Spiegel.
Er sah, wie die Macht Politiker verändert
Insgesamt 36 Jahre beschäftigt er sich in Bonn, Washington und Berlin mit Politikern, Wirtschaftsbossen und Künstlern. Er begleitet sie. Er schaut und hört ihnen zu. In seinem Buch „Höhenrausch“ schreibt er: „Seit 40 Jahren beobachte ich nun Politiker aus nächster Nähe, sehe, wie die Macht sie verändert, wie sie sich einmauern in Posen von Kompetenz und Zuversicht, während die öffentliche Verachtung wächst.“
Er ist ein Chronist unserer Zeit. Als er Journalist wird, ist das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger (CDU) Bundeskanzler und der aus dem Exil zurückgekehrte Willy Brandt Außenminister. Als er 2007 beim Spiegel ausscheidet, ist Angela Merkel Regierungschefin. Und wie sehr er dem Spiegel fehlt, merkt man, seitdem er nicht mehr da ist. Was machen die Umstände aus den Politikern? Was wird aus ihnen? „Die meisten geraten doch alsbald in die Versuchung, ihre Wahlämter als Plattform zur Selbstbestätigung zu benutzen, sich und anderen mit ihren Privilegien Bedeutung vorzuspielen."
Ein „homme de lettres“
Viele merken gar nicht, wie sie von einem Sog erfasst werden, der ihnen immer mehr äußeren Betrieb zumutet und immer mehr innere Freiheit nimmt. Meist wollen sie es nicht wahrhaben. „Höhenrausch ist ein Buch, in dem Jürgen Leinemann schonungslos mit dem Politikbetrieb umgeht, mit dem des Journalismus ebenfalls und mit sich selbst auch: „Eine Weile glaubte ich mich in meiner Beobachterposition auf der sicheren Seite – bis ich merkte, dass ich als Journalist keineswegs nur Zuschauer war, der auf der Tribüne des Geschehens saß und cool protokollierte, sondern auch Zeitgenosse und Mitspieler in der politischen Klasse.“
2003 und 2004 schreibt er, nachdem er seinen Alkoholismus besiegt hatte: „Ich musste erst selber eine lebensbedrohliche Krise überstehen, um zu begreifen, in welches Elend manche geraten, wenn sie Politik zum Beruf machen. Hans Magnus Enzensberger hat es drastisch zugespitzt: „Der Eintritt in die Politik ist der Abschied vom Leben, der Kuss des Todes.“
Rudolf Augstein hat Jürgen Leinemann vor vielen, vielen Jahren einen „homme de lettres“ genannt. Das ist er ganz ohne Zweifel gewesen. Seine Freunde können diesen großzügigen und gescheiten Mann, voller Humor und Einfühlungsvermögen, nicht vergessen.
ist Journalist, Gast-Dozent für Fernsehdokumentation und -reportagen an der Berliner Journalistenschule und an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin sowie Honorarprofessor im Studiengang Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste (UdK).