Johano Strasser: Grenzgänger zwischen Politik und Kultur
Michael Gottschalk/photothek.net
„Links sein war für mich von Anfang an ein an humanistischen Idealen orientiertes Projekt, und auch heute noch heißt links sein für mich vor allem eins: die unveränderliche Würde des Menschen zum Maßstab allen politischen Handelns zu nehmen“. Gibt es eigentlich noch jemanden, der einen der Aufklärung verpflichteten linken Humanismus und einen radikalen Reformismus ein Leben lang so geradlinig verkörpert wie Johano Strasser, am 1. Mai 1939 geboren? Es ist schon einzigartig, wie er seit Jahrzehnten nicht müde wird, als Grenzgänger zwischen Politik und Kultur überzeugend Utopie und Pragmatismus miteinander zu verbinden, sich für die soziale Demokratie wie die ökologischen Überlebensfragen gleichermaßen einzusetzen.
50 Jahre „Argumentationsgangster“
Die Figur des querdenkenden und wertorientierten public intellectual ist seltener geworden, hoffen wir, dass der digital influencer diese nicht überall ersetzt. Johano Strasser konnte ein Leben lang als Schriftsteller, Publizist, Redakteur und Präsident des deutschen PEN-Zentrums die intellektuelle Debatte in Deutschland und erst recht in der SPD mitprägen. Ob als „Cheftheoretiker“ der reformsozialistischen Jusos der 1970er Jahre, als leitender Redakteur der literarisch-politischen Zeitschrift L´80, ob von Beginn an als Mitglied der SPD-Grundwertekommission, ob im Kulturforum der Sozialdemokratie, in der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus oder im Redaktionsumfeld der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte, aber vor allem in unzähligen Büchern, Aufsätzen, Vorträgen, Programmtexten und Interviews hat er mehr als 50 Jahre als „Argumentationsgangster“, wie er das einmal selbstironisch nannte, gewirkt. Wer ist schon wie er in der sozialwissenschaftlichen Analyse, der literarischen Welt, der sozialdemokratischen Partei und der demokratisch linken Reformdebatte gleichermaßen zu Hause?
Die Stationen seines Lebens hat er selbst in seiner (sehr politischen) Autobiografie „Als wir noch Götter waren im Mai. Ein deutsches Leben“ nachgezeichnet. Dort beschreibt er im Gegensatz zum „workalcoholic“ und zum „faulen Genießer“ sein (und unser) Ziel anhaltenden Zufriedenheit folgendermaßen: So „könnte es naheliegen, das Lebensglück dort zu suchen, wo es mit größerer Wahrscheinlichkeit zu finden ist, in der selbstgewählten Gemeinschaft mit anderen, in selbstbestimmter Tätigkeit, im Verzicht auf das Rattenrennen der Statuskonkurrenz, in der geteilten Freude, die bekanntlich eine doppelte ist“.
Die Balance zwischen Erwerbs- und Eigenarbeit
Daran hat sich Johano Strasser immer gehalten, er hätte auch eine parteipolitische oder universitäre Karriere machen können, stattdessen beschäftigte er sich in Theorie und Praxis mit der besseren Balancierung von Erwerbs- und (sozialer) Eigenarbeit, auch mit kulturellen und künstlerischen Dimensionen des Lebens. Die Zukunft der Arbeitsgesellschaft, die Zurichtung des Menschen zu einem Element des Marktes, Gefährdungen der Freiheit durch Sicherheitswahn, die Zukunft eines humanen Sozialstaats, Kritik am Wachstumsfetisch, die Zukunft Demokratie auch in postfaktischen Zeiten – das sind nur ein paar seiner gründlich durchdachten und wissenschaftlich-essayistisch aufgearbeiteten Themen.
Seine wichtigsten beiden Bücher sind für mich „Die Zukunft des Fortschritts. Der Sozialismus und die Krise des Industrialismus“ (mit Klaus Traube) 1981 und „Das Drama des Fortschritts“ 2015.
In ersterem erweiterte er die Kritik am Kapitalismus zur Kritik am Industrialismus, denn die Fortsetzung des ökonomisch-technischen Expansionskurses gefährde den Freiheitsraum der Menschen zunehmend, trotz aller Steigerung der Produktion laufe der falsche Pfad auf Entsagung in größerem Ausmaß hinaus: „Verzicht auf eine gesunde und menschenwürdige Umwelt, Verzicht auf sinnerfüllte und interessante Arbeit, Verzicht auch, was den tatsächlichen Gebrauchswert der Produkte angeht“. Auch wenn eine Realutopie des „Ökosozialismus“ heute unzeitgemäß vorkommen mag, nicht nur die aktuellen Schülerdemos „fridays for future“ verweisen darauf, um wieviel mehr die Lebensgrundlagen der menschlichen Zivilisation heute gefährdet sind, wie uns die Zeit abläuft zum wirklichen ökologischen Umbau des Wirtschaftens und dass die Rettung des Klimas, der Arten, der Meere usw. mit einem zu ungeregelten und wachstumsbessenen Kapitalismus nicht zu machen sein wird.
Von den Griechen bis zur Globalisierung
Letzterer Band greift die Fortschrittsidee auf und entfaltet sie von den alten Griechen bis zur derzeitigen Globalisierung – und enthält erneut ein umfassendes handlungsorientiertes Reformprogramm, was sich alles ändern müsste, denn „die Zukunft offen halten ... heißt auch, sich nicht einreden zu lassen technischer und ökonomischer Fortschritt, das Schneller-Höher-Weiter und Immer-Mehr sei das eigentliche Ziel allen menschlichen Hoffens und Strebens“. Strasser zeigt, wie ein reflexiver Fortschritt, der die ambivalente Fortschrittsentwicklung von vorneherein berücksichtigt, auch heute noch Hoffnung stiften kann.
Gerade in diesen Tagen sollten wir noch Strassers klare Europaorientierung, die ihm gewissermaßen in die Wiege gelegt wurde, hervorheben (er stammt aus einer internationalen Familie und ist gewissermaßen Esperanto!). Immer wieder brachte Strasser die demokratische und internationalistische Gegenposition zum neuen autoritären Abschottungsnationalismus auf den Punkt: „Den Primat der Politik können wir nur dann wiederherstellen, wenn uns der ganze Oikos zum politischen Gestaltungsraum wird, wenn wir Europa zu einer kulturell definierten, demokratisch legitimierten und politisch handlungsfähigen Einheit ausbauen, mit einem von europäischen Parteien frei gewählten Parlament und einer von ihm verantwortlichen Regierung, wenn wir die UNO stärken, den Sicherheitsrat endlich repräsentativ gestalten, die UNO-Vollversammlung durch ein Weltparlament ersetzen und unter seiner Ägide eine neue Weltordnung des Rechts errichten“. Ganz in diesem Sinne wird jede Zukunftsdebatte die Stimme Strasser noch lange brauchen!