Es wird eng in Berlin. 2003 wurden elf Millionen Hotelübernachtungen gezählt. Zehn Jahre später waren es 27 Millionen. Im nächsten Jahr soll die 30-Millionen-Marke geknackt werden. Was macht das mit einer Stadt, die noch immer im Selbstfindungsprozess zwischen Biotop und Metropole laviert, wie der Volksentscheid zur Bebauung des Tempelhofer Feld gezeigt hat?
Sind die Touristen ein Segen für die klamme Hauptstadt oder zerstören die mancherorts als Konsumsklaven geschmähten Besucher gewachsene und vor allem liebgewonnene Strukturen?
Die Filmemacherin Nana A.T. Rebhan legt sich in ihrem Dokumentarfilm "Welcome Goodbye" nicht fest. Sie erlebte den einsetzenden Boom vor ihrer eigenen Haustür im Bezirk Neukölln. Plötzlich eröffneten immer mehr trendige Kneipen und Läden, hörte auf der Straße statt Türkisch auch Englisch, Französisch und Italienisch. Mit den Besuchern nahmen auch ihnen wenig freundlich gesinnte Parolen auf Hausfassaden zu. Und das ausgerechnet in einer Stadt, die ihre Lässigkeit und Weltoffenheit betont, zumal in Kreuzberg, dessen alternative Traditionen größtenteils Zugereisten zu verdanken sind. Wie konnte es dazu kommen?
Touristenhass ein Alleinstellungsmerkmal?
Rebhans Dokumentarfilm sucht nach Antworten. Er geht dem Phänomen Touristenhass als Berliner Alleinstellungsmerkmal, den Folgen des Gästeandrangs und der Debatte um Alternativen zum Easyjetset mit unaufgeregter Erzählweise und frei von Polemik nach. Politiker, Kiezbewohner und Branchenexperten bewerten Chancen und Risiken der gegenwärtigen Entwicklung und liefern somit ein vielschichtiges Meinungsbild zu einem derzeit in der Hauptstadt heftig diskutierten Thema.
Am weitesten voneinander entfernt liegen dabei Burkhard Kieker, der Geschäftsführer des landeseigenen Tourismusvermarkters visitBerlin, und Franz Schulz, der frühere Kreuzberger Bezirksbürgermeister von den Grünen. Während Schulz beklagt, dass die gewöhnlichen Berliner unter dem Besucheransturm leiden würden, ohne davon zu profitieren, stellt Kieker diese vor die Wahl, sich damit abzufinden, im Zoo zu sitzen oder nach Osnabrück zu ziehen.
Von Touristen umzingelt
Einer, der sich zunehmend wie ein Zoobewohner fühlt, ist der Protagonist des Films. Christian, ein schlaksiger und freundlicher Grauhaariger um die 60, findet in seiner Kneipe kaum noch einen Platz und fühlt sich auch sonst von Touristen umzingelt. Anstatt Graffiti gegen Rollkoffer, die zu allen Tages- und Nachtzeiten übers Pflaster klackern, zu sprühen, stellt er sich die Frage, wie er seinen ganz persönlichen Nutzen daraus ziehen kann, dass es vor allem immer mehr junge Leute aus aller Welt an die Spree zieht. Fortan verlockt er Berlin-Touristen zu einer Stadtführung – und zwar mit einem "echten Berliner", sie die Markenidee des in den 90ern zugereisten Niedersachsen.
Klischees im Kopf
Auch Christian hat Klischees im Kopf: Touristen verstopfen die Straßen, glotzen überall in die Fenster und so weiter. "Dann schafft Euch doch Vorhänge an", antwortet ihm ein Musiker aus Mexiko. Man sieht: Die Begegnungen verpassen Christians Vorstellungen einen Realitätscheck. Durch seinen neuen Job lernt der hauptberufliche Schauspieler zudem, dass die Besucherscharen nicht nur kommen, um etwa auf Bierbikes ins Koma zu radeln, sondern auch, um etwas über deutsche Geischte zu lernen oder gar ein eigenes Projekt zu starten. Es sind Erfahrungen, die man manchen Anti-Touristen-Krakeelern wünschen würde, ohne sich Kiekers heilbringenden Erwartungen an weiterhin steigende Übernachtungszahlen anschließen zu wollen.
Gleichzeitig lernt Christian auch einiges über seine Stadt: Im Gegenzug zum Trip zum "romantischsten Sonnenuntergang Berlins" entführen ihn seine jugendlichen Gäste in die angesagtesten Clubs. Dort scheint ihm aufzugehen, dass das Stadtleben, um das er bangt, längst von neuen Lebensstilen überholt worden ist, also für das Vergangene steht. Und dass Weltoffenheit nicht mit Ausverkauf gleichzusetzen ist. Schlussendlich ermöglicht ihm das Experiment sogar, selbst in die Rolle des Touristen zu schlüpfen.
Vorurteile wackeln
Dass dieser Film zeigt, wie schnell Vorurteile wackeln, wenn man sich jenen Menschen öffnet, denen – über niedere touristische Triebe hinaus – wenig Interesse an der Hauptstadt und ihren Bewohnern nachgesagt wird, macht diesen Film sympathisch. So offen wie die Perspektive der Regisseurin wird nach und nach auch Christians Sichtweise. Das zeigt sich etwa, wenn er sich mit jungen Taiwanerinnen auf Sightseeing-Marathon begibt oder mit einer Israelin über den Berliner Alltag diskutiert. So gerät die Frage, "Wem gehört die Stadt?" zum Spaziergang jenseits vorgefertigter Standpunkte.
Leider nur die lokale Brille
Dem Phänomen des Touristenhasses kommt man dabei allerdings nicht wesentlich näher. Dafür hätte Rebhan weiter über den Tellerrand blicken müssen. Zum Beispiel hätten Stimmen aus Metropolen wie London oder Rom weiterhelfen können, die seit Jahrhunderten mit Millionen von Besuchern leben. So erscheint es etwas merkwürdig, ausgerechnet ein weltumspannendes Thema ausschließlich durch die lokale Brille zu betrachten.
Info: Welcome Goodbye (Deutschland 2014), ein Film von Nana A.T. Rebhan, mit Christian Bormann, Igor Jimenez, Frank Schulz, Burkhard Kieker, Harald Martenstein u.a., 82 Minuten.
Ab sofort im Kino